Macht Lesen intelligenter? Vom Wert des Lesens für die Intelligenz und für unser Leben sowie eine Kritik von Kehlmanns Roman „Ruhm“

Der Mann muss Zeit haben, denn der Mann liest Romane. Nein, auch keine Sachbücher, jawohl Romane. In der Doktorandenhängematte verschlingt er nun dicke Batzen. Der Arme! Gebt ihm doch stattdessen Arbeit!

Doch das Lesen hat neben meiner Doktorenfaulheit auch andere Gründe. In diesem Artikel erläutere ich, warum Lesen in den Alltag und gar in die Abendroutine eingearbeitet sein sollte und welche Effekte vor allem Lesen auf uns haben. Am Ende gehe ich auf meine Abendroutine ein, die mit dem Lesen verknüpft sein soll. Zudem diskutiere ich am Ende Kehlmanns Roman Ruhm. Ich werde mich jetzt wohl häufiger Romanen widmen. Mehr dazu am Ende.

Denkfehler: Sind Kinder, die lesen intelligenter oder lesen Intelligente mehr?

In „Die Kunst des klaren Denkens: 52 Denkfehler, die Sie besser anderen überlassen“ beschreibt Rolf Dobelli einen Denkfehler, der uns im Alltag immer wieder befalle. Es heißt, Kinder aus intelligenten Familien lesen mehr Bücher. So gleich verweist der Autor jedoch darauf, dass dies ein Fehlschluss sei. Der Fehlschluss ist folgender: denn Kinder, die intelligenter seien, würden womöglich schlicht Bücher als Unterhaltungsmedium bevorzugen.

Soweit jedoch ist es nicht richtig, dass es sich um einen Fehlschluss handelt, sondern genauer handelt es sich um einen induktiven Schluss, der auf eine Beobachtung verweist, nämlich, dass Kinder aus intelligenten Familien mehr lesen. Die skeptische Bildung einer Gegenhypothese ist zwar korrekt, aber wir müssen vorher weiter untersuchen, bevor wir eine Schlussfolgerung anstellen. Hierbei kommen uns verschiedene, weitere Methoden zur Hilfe. In anderen Worten Rolf Dobelli gibt uns nur einen Anstoß zum kritischen Denken, verbleibt dann aber auf einer skeptischen Grundposition. In diesem Artikel entwickle ich weitere Argumente, dass Lesen unsere Intelligenz steigert und welche Effekte wir davon noch zu erwarten haben.

Kurz, die Effekte des Romanlesens

  • Schlafvorbereitung durch Entspannung beim Einfühlen in andere Personen
  • Ängste lösen
  • Erhöhung der Empathie
  • Erhöhung der verbalen Intelligenz
  • Allgemeine Persönlichkeitseffekte
  • Höhere Intelligenz
  • Vorbild für die eigenen Kinder
  • Ansammeln von Erlebnissen
  • Auseinandersetzung mit gegenwärtigen gesellschaftlichen Themen aus der Innenperspektive
  • Glück!


Effekte des Lesen

Gut das sind viele Effekte, aber bringt es wirklich etwas? Nun es gibt da so einige Korrletationen: Vorlese-kinder zum Beispiel erzielen durchschnittlich einen besseren Notenschnitt als Nicht-Vorlese-Kinder (Studie Stern, Differenz von 0,4). Eine andere Studie von 2010 zeigt diesbezüglich auch, dass Schüler, die mehr lesen, generell bessere, geistige Kapazitäten haben, wobei interessanterweise dies auch bei Studienteilnehmern passierte, die mit ihren Eltern Filme schauten. Gleiches passierte jedoch nicht bei Kindern, die Fernsehen schauten. Ähnlich wie Romane verlangen Filme geistige Anstrengungen und Interpretation von uns, wobei die Anwesenheit von anderen, uns dazu bringt, die Filme auch wirklich empathisch nachzuvollziehen (Quelle: New York Times).

Dziewczynka z ElementarzemIn weiteren Auswertungen (Cunningham, Stanovich)  im Hinblick auf die Intelligenz von Lesern im Vergleich zu Nicht-lesern heißt es, dass Lesen  generell über das direkte Ziel hinausgeht. Zwar lesen wir zumeist kleine Passagen, die für uns einen direkten Wert haben, nämlich den Informationsgewinn, jedoch haben die Passagen darüber hinaus Einfluss auf unsere Wortgewandtheit und unser Empathievermögen. Weil zum Beispiel Romane 50 Prozent mehr Worte als Prime-Time-Shows haben, kommt es durch dieses bestimmte Freizeitverhalten dazu, dass Kinder aus lese-orientierten Familien, selbst bei minimalen Differenzen im Leseverhalten bald höhere verbale Kompetenzen akkumulieren.

Was zählt ist daher nicht, dass das Lesen einmal passiert, sondern dass es ein einstudiertes Freizeitverhalten ist. Wörter, die gerade bei diesem Lesen aufgenommen werden, seien wichtig, um kritische Unterscheidungen zu treffen. Wörter, die für diese Fähigkeiten wichtig sind, treffen wir vor allem in Texten an und nicht in Fernsehshows. Die Studie führt daher an, dass vor allem der Leseumfang zu einem erheblichen Vorsprung vor anderen Kindern führt und bedeutet auch, dass die intellektuell Reichen schlichtweg reicher werden und die Dummen dumm bleiben, so sehr sie sich auch in der Schule anstrengen.

Im Weiteren wird in der Untersuchung angeführt, dass lebenslanges Lesen auch verhindert, dass kognitive Fähigkeiten im Alter stark nachlassen. Es geht also nicht nur um Kinder, die hier besonders im Fokus des Lernens stehen, sondern um alle Alltersgruppen.

Diese Ergebnisse lassen sich meines Erachtens auf das Lernen von Sprachen erweitern (Hier mein Entwurfsartikel dazu). Das heißt, will ich eine Sprache lernen, sollte ich auch eher passives Wissen in dieser Sprache durch Romane aufnehmen.

Das Gehirn auf Romanen, der Einfluss auf unser Empathievermögen

Nach Studien aus den Jahren 2006-2009 weisen Leser langanhaltend mehr Empathie auf, wenn sie Romane lesen. Hierbei gaben die Forschern Lesern das Buch „Pompei“ und verglichen es mit Lesern von Sachliteratur und Nichtlesern. Das bessere Abschneiden der Romanleser wurde auch beibehalten, als die Wissenschaftler die Hypothese ausschließen konnten, dass empathischere Menschen eher Romane lesen (Quelle: New York Times).

Nicht also, wie auf vielen Websites gepriesen, das Lesen von Sachliteratur macht uns schlauer, sondern das Lesen von persönlichen Geschichten. Sachliteratur konsumieren wir eher im Hinblick auf direkte Probleme, doch dabei kommt der Aspekt der sozialen Interaktion nicht zur Geltung.

Unterstützend wurde in weiteren Studie (Ritchie, Bates, Child Development 2014) herausgefunden, dass die frühe Lesefertigkeit auch später Effekte auf die allgemeine Intelligenz hat. Romane führen zu einer höheren Konnektivität im Gehirn (wenn ich die Studienergebnisse richtig verstehe: Studie 2013: Short and Longterm Effects of a Novel on the Connectivity of the Brain. Lesen katapultiere den Leser im gewissen Sinne biologisch in die andere Person hinein.

Letzteres könnte auch auf einen Zusammenhang mit gutem Schlaf verweisen. Diese Verbindung zwischen Lesen und gutem Schlaf wird zwar immer wieder in Alltagsratgebern herausgehoben, allerdings konnte ich hierfür keine konkreten Studien finden. Es könnte also auch ein Mythos sein. Es gibt allerdings Studien, die zu den Ergebnissen kommen, dass durch Lesen Ängste und Depressionen gemildert werden (Hier wird auf einige Studien dazu verwiesen). Da Depressionen und Ängste Dinge sind, die uns abends unter Umständen nicht schlafen lassen, gehe ich davon aus, dass Lesen auch den Schlaf verbessert.

Lewis Hine, Boy studying, ca. 1924Konsequenzen für meine Abendroutine

Aus diesen Gründen, die jeweils mehr oder minder schwache Korrelationen sind, habe ich mich dazu entschieden, Lesen in meine Schlafroutine einzubauen, das heißt: Ich lese vor dem Schlafengehen mindestens 15 Minuten Romane. Dieses ist nach dem Prinzip der Mikrogewohnheiten, wonach ich nicht versuche viel zu erreichen, sondern mit einer minimalen Tätigkeit beginne und sich die Effekte später akkumulieren (Hier mein Artikel zu Mikrogewohnheiten).

Das hört sich wenig an, aber in den letzten 2 Monaten, habe ich „Der Schwarm“ (1000 Seiten! Frank Schätzing), „Ruhm“ (Kehlmann), „Verbrechen“ und „Schuld“ (Schierach) und „Atemschaukel“ (Müller) gelesen. Zudem habe ich in viele andere Romane reingelesen. Da kommt schon einiges zusammen.

Ich glaube auch, dass ich damit eine gute Abendroutine entwickelt habe, die meine Bettzeit-Prokrastination stark gemindert hat. Zusätzlich habe ich das Gefühl, dass das Hineinfühlen in andere Personen auch dazu führt, dass ich mich generell glücklicher fühle. Intelligenzeffekte habe ich direkt noch nicht feststellen können (wie kann man das auch?), aber vielleicht entwickelt sich das ja noch.

Ich verzichte in meiner Abendroutine bewusst auf Sachbücher. Ich habe auch Biografien begonnen, aber wenn diese nicht in der Gestalt von Romanen daher kommen, ist der Genuss tatsächlich gering. Weltliteratur, das heißt, eine gewisse Poetik empfinde ich generell als stimulierender als banales Gelaber zwischen Charakteren wie in Frank Schätzings Schwarm (obwohl der Roman teilweise sehr faszinierend und zu empfehlen ist).

Um die Routine beizubehalten, werde ich in Zukunft viele der Romane auf meinen anderen Blogs zusammenfassen und reflektieren. Hier ein Beispiel:

Andere Identitäten

Es beginnt mit Ebling, der aufgrund eines technischen Defekts bei der Nummernvergabe seines Mobiltelefons in die Rolle des Schauspielers Ralf Tanners schlüpfen darf. Zumindest am Telefon durchlebt er Ausschnitte aus einem anderen Leben, einem wichtigeren Leben.

Tanner selbst erfährt dabei die plötzliche Ablehnung seiner Geliebten (vielleicht bedingt durch Eblings Einmischung?). Er lebt sein Leben als Schauspieler immer unter dem Eindruck von der Öffentlichkeit beurteilt zu werden. So befällt ihn auch Scham, weil eine Szene mit seiner Geliebten bei Youtube ungewollt Verbreitung erfährt.

Aber vielleicht ist er auch gar nicht Tanner, sondern nur jemand, der gerne Tanner wäre, ein Doppelgänger oder eben jemand, der begonnen hat, sein Leben zu spielen.

Verzweifelt ein anderer Sein

Ein anderer sein, verzweifeln an unserer morbiden Begrenzung, in der Herzkammer eingeschlossen, hinübersehnsüchteln in das Sternenlicht, die andere Flamme, zu den Elementen der Träume und Wünsche, den Wünschen, die die Welt, die bessere Welt bedeuten. Dort ist der geliebte Mensch, der Stern, der wir gerne wären, die 1000 Leben, die nur einer lebt. Wir schauen hinüber und wir würden uns dort drüben gerne selbst lieben. Aber wir sind hier.

Unsere Wünsche brechen zur Unendlichkeit durch, wir multiplizieren uns mit ihnen in die Träume hinauf und doch schaffen sie diesen knöchernden Bruch, diesen Abstand zu uns. Wir sind abgeschnitten von unseren Träumen.

Kierkegaard  verstand uns von diesen „Gipfeln der Verzweiflung“ her. Er schrieb:

„verzweifelt man selbst seinwollen, verzweifelt nicht man selbst sein wollen“ (Zitat = interessanter Artikel über Kierkegaard aus der Zeit).

Es gibt keinen Ausweg, keine Tür, kein Exit, keinen Fluchtweg aus der Verzweiflung und wer nicht verzweifelt sei, der wisse es nur noch nicht.

Daniel Kehlmanns Roman „Ruhm“ befasst sich mit dieser Verdoppelung oder Multiplikation des menschlichen Lebens und der Verzweiflung am eigenen Leben. Es sind wir in verschiedenen Geschichten. Wir, die verschiedene Geschichten in Geschichten über Geschichten von uns erzählen oder die über uns erzählt werden:

„‚Ich wußte, du machst das mit mir. Ich wußte, ich komme in eine deiner Geschichten! Genau das wollte ich nicht!‘

‚Wir sind immer in Geschichten.‘ Er zog an der Zigarette, der Glutpunkt leuchtete rot auf, dann senkte er sie und blies Rauch in die warme Luft. ‚Geschichten in Geschichten in Geschichten'“ (201)

Wie einst Sartre in „Der Ekel“ ist diese Geschichtlichkeit der nervöse Punkt unserer Existenz, eine wunde Stelle, die wir immer wieder aufkratzen. Wir erzählen immer wieder andere Geschichten über andere und über uns. Die Lüge vom besseren Leben macht das Leben dabei hin und wieder erträglicher. Sartre beschrieb es ähnlich:

Ein Mann geht eine Straße hinunter, doch als Leser halten wir inne: Dies ist der Held. Romane erzählen sich von ihrem Ende her und wir wissen, es wird etwas passieren. Nur für uns da gibt es keine Zielstellung, keine große Wende, wir sind kaum Helden des eigenen Lebens. Wir gehen nur eine Straße hinunter.

Kehlmann schlussfolgert daher durch seine Romanfiguren hindurch:

„Ein Roman ohne Hauptfigur!“

Vielleicht zu ambitioniert, wenn acht Geschichten in lockerer, distanzierter Sprache verzahnt werden, dann  geraten die Charaktere streckenweise zu fernen Sätzen, die an der Innerlichkeit wie ferne Züge vorbeirauschen. Es sind komponierte Elemente, Elemente von Wünschen, die wie alles Formale wenig Wirklichkeit haben.

Hier und dort verzahnen sich die Geschichten. Jene Kunstgriffe versucht Kehlmann durch Selbstironie zu verschleiern, indem er als Erzähler in einen literaturtheoretischen Dialog mit seinen Hauptfiguren übergeht. Indem er einer Figur unerwartet Jugend und Schönheit schenkt. Auch indem er einen Moralschriftsteller sich selbst richten lässt. Doch ist dies die Verlegenheit des Autors?

Womöglich ist es der wirkliche Kitsch des Lebens.

Dann geht eine Frau in Transnistien verloren oder irgendwo, wo eine andere Zivilisation sie allein lässt.

Dann kommentiert ein anderer manisch in Foren und vergisst sich dabei selbst.

Wiederum ein anderer versucht, sich in zwei Familien als Mann zu behaupten. Vielleicht weil er nicht weiß, wer er ist?

Eine andere Frau versucht, sich das Leben zu nehmen und fragt den Erzähler, warum ihre Geschichte gerade derart erzählt wird.

Es sind viele Doppelleben, die die Menschen in Geschichten von Geschichten führen:

„Weil ein Mensch vieles sein will. Im wörtlichen Sinn. Er will viel sein. Vielfältig. Möchte mehrere Leben.“(187)

Wo also ist die Einheit des Selbst, dieser Ichkerns, der durch uns hindurch besteht und uns wie ein Atom zusammenhält, uns zu einem Menschen macht, der träumt? Das vielköpfige Biest (Platon, Politea Buch XIII) ist die Grundlage unserer Wünsche, doch Einheit der Vernunft findet sich in diesem Roman nicht, sondern ist nur eine ironische Spitze, die alle Seifenblasenträume zerplatzen lässt.

 

Ein guter Audio-Ausschnitt, wenn auch ein schlechterer des Buches, hier: http://www.literaturport.de/index.php?id=28&no_cache=1&tid=341

Soviel also vorerst zum Thema Lesen. Hier noch meine Leseliste:

Romane aktuell:

  • Atemschaukel,
  • Sophie Welt (vielleicht zu nahe an meiner Profession?)

Kürzlich abgeschlossen:  

  •  Der Schwarm (Frank Schätzing)

  •  The-4-Hour-Chef (Timothy Ferriss)

Biographie (kann ich die als Romane gelten lassen?)

  • Salinger – Biografie
  • Bergsteigerbuch

Philosophie (beruflich), aktuell:

    • Habermas: Wahrheit und Rechtfertigung
    • James Swindal: A case for Agent Causation (Mein Professor)
    • Diverse Bücher von Brandom
    • Hegel: Wissenschaft der Logik
    • Aristoteles: Metaphysik, Ãœber die Seele, Physik, Nikomachische Ethik
    • Platon: Der Staat
    • Empiricus Sextus
    • Und vieles mehr

Ich hoffe, der Artikel war informativ und interessant. Wenn ja, dann teilt ihn doch. Wenn ihr mir weiter folgen wollt, dann added mich doch bitte bei Google+. oder tretet der Facebookgruppe oben rechts bei. Wenn ihr wirklich keine Beiträge verpassen wollt, dann solltet ihr in den E-mail-Verteiler (bei Facebook kommt ja nicht mehr alles an). Ein RSS-Feed ist natürlich auch vorhanden. Ansonsten könnt ihr mich gerne anschreiben oder einen konstruktiven (!) Kommentar hinterlassen. Ansonsten wäre weiterempfehlen ganz nett.

Norman Schultz

Pittsburgh, Oktober 2014

Related Posts Plugin for WordPress, Blogger...
0Shares

Comments

comments

Powered by Facebook Comments

Dieser Beitrag wurde unter Lesen lernen abgelegt und mit , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Eine Antwort auf Macht Lesen intelligenter? Vom Wert des Lesens für die Intelligenz und für unser Leben sowie eine Kritik von Kehlmanns Roman „Ruhm“

  1. Pingback: Star Trek und Moby Dick – Philosophie EntGrenzen – Die Wissenschaft der Wissenschaften

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert