Schnelllesen – 300 Seiten Bücher in 30 Minuten lesen? Zum Mythos des Schnelllesens

Lesen ist eine der wesentlichen Techniken, um sich Wissen anzueignen. Gleichwohl es immer mehr Podcast gibt und das Internet seine Bildqualitäten erweitert, immer noch fordert unser Geist das langsame Durchdringen von Argumenten von Buchstaben, die uns nicht davon rennen. Texte und Bücher haben nach wie vor eine immense Bedeutung. So ist es auch von immer größerer Bedeutung schnell zu lesen, um in einem ersten Zug zumindest das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen und sich dann dem langsamen Lesen zu widmen. In diesem Beitrag geht es daher um den Mythos des Schnelllesens (Titelbildattribution: By Anthony Berger, photographer. Brady National Photographic Art Gallery (Washington, D.C.) [Public domain], via Wikimedia Commons).

Lonely Reader - A5

Philosophie und die Grenzen des Lesens (CC_Foto von h.koppdelaney)

Für Wissenschaften sei angeblich ein hohes Lesepensum erforderlich. Diese Einschätzung teile ich nicht ganz, da meines Erachtens die Diskussion von wissenschaftlichen Ansätzen und die produktive Aneignung durch Vertextung im Mittelpunkt steht. Es geht nicht um passives Lernen, sondern darum durch eigene Vertextung und Diskussion relevantes Wissen zu aktiveren und zu kritisieren, um sich schließlich zu entwickeln. Dennoch kann dabei eine schnelle Lesefähigkeit nicht schaden. Es gibt derweil tatsächlich hohe Lesegeschwindigkeiten, die tatsächlich erlernbar sind. Wikipedia listet etwa: Sean Adam aus den vereinigten Staaten. Sein Lesegeschwindigkeitsweltrekord steht bei unglaublichen 3850 Wörter pro Minute. Dies bedeutet grob geschätzt 14 Seiten pro Minute. Ein 300- seitiges Buch ließe sich so weniger als 30 Minuten lesen. Der Witz an der Sache ist gar, dass wenn jemand diese Technik beherrscht, er den Inhalt sogar besser aufnehmen kann, da das Gehirn sich von der Langeweile des langsamen Lesens nicht ablenken muss. Auch die Augen werden durch weniger Bewegung, die beim Schnelllesen erforderlich sind geschont.  Was ist aber dran an den Lesetechniken, die 10.000 und mehr Wörter pro Minute versprechen?

Probleme beim Schnelllesen

Bundesarchiv Bild 183-J0604-0020-001, Leipzig, Deutsche Bücherei, Lesesaal

Lesebunker - Interessant wie die Gesellschaft den romantischen Leser transformiert - Bundesarchiv, Bild 183-J0604-0020-001 / Raphael (verehel. Grubitzsch), Waltraud / CC-BY-SA CC-BY-SA-3.0-de (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en), via Wikimedia Commons

Seit meinem 16. Lebensjahr beschäftige ich mich neben der Philosophie nun mit den Techniken des Schnelllesens. Ich wollte vor allem viele Inhalte schnell und nachhaltig aufnehmen. Hierbei habe ich mir verschiedenste Techniken antrainiert, die es mir ermöglichten Texte schnell und vor allem genau aufzunehmen. Zum Training verwendete ich viele Bücher, die ich allerdings allesamt nicht empfehlen kann. Es gibt kein gutes Buch zu diesem Thema, da es ohnehin um das individuelle Training mit einem Experten ankommt. Peter Rösler, selbst Experte im Schnelllesen, erhebt folgenden Einwand gegen die meisten Wunderbücher :

„entweder das Buch taugt nicht zur Lesebeschleunigung, oder das Buch basiert auf dem verfehlten Hoch-Ãœben“

Eine Erfahrung, die ich durchaus bestätigen kann. Die meisten Bücher setzen auf die Verringerung der Subvokalisation (das heißt der Effekt, dass unser Kehlkopf automatisch mitschwingt, wenn wir an ein Wort nur denken) als auch auf der Verhinderung von Regressionen (das heißt, dem beständigen Zurückspringen im Text, wenn wir etwas nicht verstanden haben). Zumeist sind diese Ansätze dann mit einer dünnen Theorie unterfüttert, wo am Ende mehr Versprechungen als Resultate übrig bleiben.

Was ich aus diesen Büchern aber zumindest erreichen konnte, waren Lesetemposteigerungen um das zwei- bis dreifache, was dann zu Lesegeschwindigkeiten von maximal 1000 Wörtern pro Minute führte. Ich übte an guten Suhrkamp Büchern und schaffte vielleicht drei Seiten pro Minute, was ungefähr dieser Lesegeschwindigkeit entsprach. Von philosophischen Büchern die „Wissenschaft der Logik“ des Philosophen Hegel war allerdings nicht zu träumen. Um ganz ehrlich zu sein, dort quäle ich mich noch heute in 10 Minuten-Sitzungen über nur eine Seite (Ich verstehe daher nicht, dass die Amerikaner glauben, das Buch tatsächlich in einem Semester abhandeln zu können). Die ersehnten 10.000 Wörter pro Minute, die Techniken wie das Photo-Reading versprachen, blieben aus. Es wäre auch zu schön gewesen, das Buch „Kritik der reinen Vernunft“ des Philosophen Kant in 30 Minuten zu vernaschen.

Bundesarchiv Bild 183-77224-0001, Auszubildener aus Kamerun Zeitung lesend

Die Zeitung in drei Minuten lesen? Bundesarchiv, Bild 183-77224-0001 / CC-BY-SA CC-BY-SA-3.0-de (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en), via Wikimedia Commons

Die Grenzen des Schnelllesens und die Grenzen des Ãœbens

Den Text nur noch optisch aufnehmen, bedeutet eine Schallmauer zu durchbrechen und Texte wie ein Bild zu verarbeiten. Einer liest dann mit dem „Schwingfinger“, seine Augen versuchen nicht Sätze von Anfang bis Ende zu lesen, sondern in einer Bewusstseinseinheit aus Seitenelementen zusammenzusetzen. Jedoch mehr als oberflächliches Lesen kommt beim autodidaktischen Lesen nicht heraus. Einer irrt mit seinen Augen über Worttürmchen, die beständig breiter werden. Er versucht dabei seine Blickwinkel zu weiten, aber was kommt dabei heraus? Nicht viel außer, dass einer sich selbst verwirrt.

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Wenn ein Hund in ein Buch hinein schaut, kann kein Genie herausblicken By Master of Catherine of Cleves, Lieven van Lathem (illuminators) Public domain, via Wikimedia Commons

Die Pseudowissenschaftsszene der Persönlichkeitsentfaltung verkauft dabei alles. Ohnehin glauben ja Manager an ihren eigenen Erfolg als unabhängig von der Gesellschaft, warum also auch nicht an anderen Unfug? Die die Szene protzt dabei mit Begriffen: Dynamisches Lesen, Photographisches Lesen, Speed-Reading, Photreading, Scan-Reading (30 – 90.000 WpM !) und Alpha-Wellen-Lesen. Je tiefer ich in die Szene der dubiosen Bücher vordrang, desto verquaster wurden die Begriffe. Ich bin mir sicher, wäre ich diesen Pfaden gefolgt, so würde ich heute nicht Philosophsein (was schon genügend verrückt ist), sondern in irgendeinem weltfremden Sex-Kloster in Swaziland sitzen und über Inschriften in Grashalmen meditieren, sowie merkwürdigen Sex haben.

Das Kurioseste war wohl Alpha-Wellen-Reading. Dieses war wohl der abgehobenen Idee aufgesessen, dass unser Gehirn schließlich jeden Moment speichere. Der Undercover-Agent „Unterbewusstsein“, der uns stets begleitet und insgeheim wie in einer Verschwörung gegen unser Bewusstsein die Strippen zieht, konnte im Alpha-Wellen-Modus des Gehirns aktiviert werden und so intensiv das Gelesene zugänglich machen.

In der Regel waren diese Bücher nur der Einstieg in die Hoffnung auf Persönlichkeitsentfaltung. Wer tiefer in diese Persönlichkeits-management-theorie hinabstieg, konnte auch erfahren, dass das gesamte Weltwissen in einer geheimen Meditationsebene gespeichert wäre, die nur zugänglich gemacht werden musste. Eine innere Bewusstseinssperre sollte nur entriegelt sein, um den Weg zur grenzenlosen Genialität freizugeben. Und wer glaubt nicht insgeheim, dass in ihm hinter einer noch nicht entdeckten Grenze ein Genie verborgen sei? Dieser Riegel vor dem inneren Geist würde nur geöffnet werden müssen und der Einfall des Lichts in die Unterwelt des Unterbewusstseins würde unser selbst zum Guten wenden.

Die Szene der Bewusstseinssteigerung

Wohl ist es jener Mangel an Bildung über Wissenschaftlichkeit, der die Menschen in diese Kreise hinab stößt. Scientology entwickelte schließlich auch ein abgehalfteter Science-Fiction Autor, der mit einer Mischung aus schlechter Philosophie, Religion und Psychologie eine Religion aufbaute. Ron Hubbard war wohl einer der ersten, die das Interesse nach Selbststeigerung, das eigentlich der Philosophie und Religion als Überzeugung zu Grunde lag, entsprechend kommerzialisieren konnte, indem er eine Religion daraus machte: Die Religion der Persönlichkeitsentfaltung.

Einst war ich in der Scientologyzentrale in Hamburg und hatte auf eine komplexe Gehirnwäsche gehofft. Ich wollte sehen, wie dies geht, mehr als Unfug konnten sie mir aber nicht erzählen. Auch die transzendentale Meditation verfährt ähnlich. David Lynch, der mir mit fuchtelnden Armbewegungen sein erleuchtetes Gehirn vorstellte, konnte mich ebenfalls nicht bekehren. „The whole brain enlightened“ betonte er als er von angeblichen PET-Scans transzendental Meditierender sprach. Doch seine Methode der transzendentalen Meditation hat wohl ähnlich nur mit Wunschdenken zu tun. Den meisten dieser Anhänger würde ein grundständiges Studium der Philosophie mit dem Schwerpunkt auf Wissenschaftstheorie nicht schaden.

Aber halt! Vielleicht gehe ich zu weit, denn trotz aller abschreckenden Beispiele glaube ich dennoch an die Techniken des Schnelllesens. Doch wo beginnt es mit der Seriösität? Den viel nüchterneren Ausdruck „Schnelllesen“ ist eher zu vertrauen. In der Organisation um das „Echte Schnelllesen“ vereinen sich dann auch viele Wissenschaftler und Professoren. Doch auch hier ist Vorsicht geboten, denn die deutschen Schnelllesegurus, die Michelmanns, geben bei ihrer eigenen Technik selbst  Lesegeschwindigkeiten von 10.000 Wörter Wörtern pro Minute an. Da kommt einem doch schnell die Frage in den Sinn, warum sie dann nicht den Weltschnellleserekord halten.

Bundesarchiv Bild 183-1985-1122-013, Leipzig, Deutsche Bücherei, Lesesaal

Uniformierte Leser - Bundesarchiv, Bild 183-1985-1122-013 / Grubitzsch (geb. Raphael), Waltraud / CC-BY-SA CC-BY-SA-3.0-de (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en), via Wikimedia Commons

Gibt es also echtes Schnelllesen? Wer nun hofft in einen Kurs investieren zu können, den  muss ich allerdings enttäuschen, der Kurs ist sehr teuer und die Erfolgsquote sehr gering. Im nächsten Beitrag dazu werde ich euch den Preis verraten. Bis dahin könnt ihr ja davon träumen wie es wäre Kim Peak zu sein. Der Autist kann mit jedem Auge jeweils eine Buchseite gleichzeitig lesen und erinnert sich an ca. 99 Prozent des Gelesenen im Wortlaut. Es gibt diese Möglichkeiten also, die Frage ist allerdings, ob sie jedem zugänglich sind. Als Philosophmuss ich allerdings betonen, dass es auch auf die Qualität und auf die Verwertung des Gelesenen ankommt. Durch gute Selektion ist auch vieles zu erreichen, aber dazu später mehr.

Ihr könnt auch meine anderen Artikel zum Thema Lesen nachschauen.

Echtes Schnelllesen

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