Zum Lernen in der Freizeit, warum Schulen strenger sein sollten und wie dramatisch Eltern unsere Chancen beeinflussen – 3. Teil meiner Gespräche mit Emil Darrenhofer

Norman Schultz: Herr Darrenhofer und ich haben in den vorangegangenen Abschnitten vor allem über die Einbettung des Lernens in das Soziale gesprochen. Was viele Menschen dabei nicht sehen, ist, dass Lernen nicht von Tricks und Tipps handelt, sondern von einer umfassenden Strategie, die sozial eingeübt werden muss. Bevor wir dies jedoch weiter vertiefen, lassen sie mich zuvor fragen, inwiefern unbedarfte Lerntipps in Form von Techniken auch Störungen einhandeln können. Sie hatten dies ja bereits in Bezug auf Schnelllesen erwähnt.

Emil Darrenhofer: Das stimmt: Nicht nur, dass Ihnen nutzlose Techniken Zeit nehmen, ja, sie können sich auch ernsthafte Störungen einhandeln. Beim Lesen heißt es beispielsweise fälschlicherweise, dass eine generelle Beschleunigung gut wäre, denn so können sie vielmehr Lesestoff schaffen. Speed-Reading-Kurse sollen Ihnen dann beibringen, wie Sie die innere Subvokalisation unterdrücken. Was am Anfang zu funktionieren scheint, wird Ihnen aber letztlich ernsthafte Lesestörungen einhandeln.Ich jedoch argumentiere, dass sich das traditionelle Lesen automatisch vom Viellesen beschleunigt und man ansonsten die Finger davon lassen sollte.

Norman Schultz: Da kann ich zustimmen, nach einem äußerst intensiven Kontakt mit den Michelmanns auf diesem Gebiet (womöglich Deutschlands und weltweit einzigen Experten zur wirklichen Lesebeschleunigung und zum Hochgeschwindigkeitslesen) muss ich zu dem Schluss kommen, dass die angebotenen Kurse Produkte sind, die keinen Sinn ergeben. Bei der klassischen Lesemechanik braucht das Gehirn die Vertonung, damit die Augen dem Text geordnet folgen können, denn Augen sind ja biologisch auf beständiges Umherspringen programmiert. Wir scannen keine Horizonte in stupiden Linien als fahren wir über einen Text, sondern wir ordnen Bilder im Hinblick auf ein inneres Bild.

Das innere Vertonen der Worte beim Lesen im Gegensatz aber erlaubt konzentriertes Blicken. Weil ich innerlich einer Tonschleife folge, folgen meine Augen. Nun allerdings folgt der Fehler: Die meisten Beschleuniger gefährden die eingespielte Mechanik zwischen Vertonung und Augenkoordination. Wenn wir beim Beschleunigen des klassischen Lesen, die Tonmechanik zerstören, können wir nicht mehr lesen. Beim wirklichen Schnelllesen kommt es daher darauf an, sehr früh in unglaublich hohe Lesegeschwindigkeiten zu springen, damit das optische Lesen sofort aktiviert wird und die tonale Lesefähigkeit erhalten bleibt.

Emil Darrenhofer: Ich komme zu dem selben Schluss. Ich halte daher die Angebote der gesamten Speed-Reader für nicht seriös, denn sie zielen nur auf kurzfristige Ergebnisse, die sie langfristig nicht erhalten können. Kurzfristig schaffen Sie es vielleicht Texte mit 1000 Wörtern pro Minute zu entschlüsseln, langfristig machen Sie sich die eingespielte Mechanik, die sie seit ihrer Kindheit als Kulturtechnik erworben haben, kaputt. Es ist wie beim Sport, wer zuviel will, zerstört sich die Gelenke.

Norman Schultz: Haben Sie vielleicht noch andere Beispiele für unangebrachte Techniken.

Emil Darrendorfer: Nicht direkt, aber ich kann mir mit weiteren Analogien behelfen, auch wenn das nicht wirklich seriös ist. Wenn ich beim Sport gleich einen Marathon laufen will, so geht vieles schief. Nicht nur, dass ich meine Gelenke überstrapaziere, die Wahrscheinlichkeit, dass ich von mir selbst enttäuscht auf das Sofa zurückfalle, ist sehr hoch. Es kommt beim Lernen wie beim Sport auf die langfristige Integration von Lernstrategien an. Ohne die soziale Kontrolle kann dies nicht funktionieren. Deswegen hat B.J. Fogg auch seine Lernstrategien entwickelt, die auf Tiny Habits, also Mikrogewohnheiten zielen.

Norman Schultz: Da stellt sich natürlich die Frage, warum Menschen Lernen nicht positiv in den Alltag integrieren können.

Darrenhofer: Die meisten Menschen erwarten eine Art Nürnberger Trichter, so dass das Wissen in sie wie Zuckerwasser hineinfließt. Viele suchen nach Geheimtechniken und einmal gefunden würde das Genie aus ihnen wie ein Vulkan hervorbrechen. Das sind deplorable Visionen von einem Schlaraffenland des Wissens, wo einem die Erkenntnis wie ein Brathähnchen in den Mund fliegt. Diese geheime Studiertechnik gibt es natürlich nicht und alle die diese Versprechen machen, sollten Sie nicht Ernst nehmen.

Dabei ist es ganz einfach, wenn sie über das Gehirn nachdenken, sollte klar sein, dass es nicht absolut in Erleuchtungsschritten lernt, sondern dass Veränderung des Gehirns, das heißt Lernen, ein geplanter Prozess ist, der mehrere Jahre in Anspruch nehmen kann.

Norman Schultz: Passend dazu, muss ich hier einfach dieses Video hier über die Geheimtechniken des Zeitmanagements posten:

Norman Schultz: Nach diesem eindrücklichen Verkaufsvideo fragen wir also mehr, was es bedeutet, eine Fähigkeit zu erlernen, denn dass es diese Wundertechnik des Lernens nicht gibt, hängt wohl auch damit zusammen, was es bedeutet, überhaupt eine Fähigkeit zu erlernen.

Emil Darrenhofer: Das ist sehr richtig, die meisten Fähigkeiten und Fertigkeiten bedürfen eines langen Weges, wobei unklar ist, welche Abzweigungen wir dabei nehmen müssen. Wir glauben zumeist, dass das Genie seine Leistungen aus einem direkten Zugang zum Fantastischen schöpft, aber selbst bei Mozart war erst das Spätwerk für seinen Ruhm entscheidend. Das heißt, lange eingespielte Intuitionen ebnetem ihm den Weg zum Genialen. Ähnliches sehen wir bei den meisten, großen Genies. Diese hatten immer lange Arbeitswege hinter sich, bevor sie dann zum Erfolg durchstießen. Daher sollten wir uns nicht nach den Lerntechniken fragen, sondern fragen, was es heißt, komplexe Fähigkeiten zu erlernen.

Norman Schultz: Diesen Glauben an das Geniale können wir wohl auch unter dem „Myth of Great Man“ verbuchen.

Darrenhofer: Der Punkt ist, dass unsere Wahrnehmung sich auf Erfolge fokussiert. Wir glauben daher, dass die Geschichte von wenigen, großen Männern gelenkt wurde (Die Argumentation ist aus den Podcasts von You are not so smart übernommen). Wie vielleicht Steve Jobs für einen Moment in ein Hinterzimmer geht und das I-Phone erfindet, so erlernen Wunderkinder natürlich Klavier. Menschen, die dies glauben, glauben auch, dass jedes Ereignis in der Welt von dunklen Strippenzieher kontrolliert wird. Tatsächlich aber ist die Welt anders und wir lernen auch anders: Struktur, Systematizität und soziale Stabilität sind dabei Schlüsselwörter, wobei ich natürlich vorsichtig sein muss, dass ich dabei keine weiteren Plattitüden in den Diskurs einführe.  

Norman Schultz: Lassen sie es mich daher nochmals am Beispiel des Schachs erörtern, um das ganze konkreter zu gestalten. Es ist meines Erachtens leicht in die höheren Perzentile in einem Expertengebiet vorzustoßen, allerdings wird es immer schwerer, sich in den Expertenbereichen ab dem 95ten Perzentil zu profilieren. Die meisten Disziplinen haben eine solche klare Unterteilung in Experten und Amateure nicht. Im Schach aber ist dies möglich. Nun können wir dort beobachten, dass das Anfängerwissen leicht kategorisierbar ist, das heißt, wir können klare Prämissen auf den Weg geben, zum Beispiel: Berühre eine Figur nicht zweimal in der Eröffnung, Rochiere früh, besetze das Zentrum usw. Höheres Wissen allerdings wird dabei immer abstrakter. Während der Anfänger die Verbesserung noch sehr deutlich in wenigen Sitzungen spürt, weiß der Experte am Ende nicht mehr, ob er etwas gelernt hat, wenn er lernt. Das heißt, nur für Anfänger ist Wissen in einfacher Form formulierbar. Je weiter aber das Wissen, desto schwieriger können wir es formulieren. Das heißt, wir sollten uns auch nicht unbedingt von Theorien verwirren lassen, die Einfachheit preisen. Lernen ist ein Prozess, der täglich erfolgt und ich möchte behaupten, dass wirkliches Lernen dann stattfindet, wenn wir für schwierige Probleme Lösungen entwickeln. Schüler und Eltern, die dabei Infotainment verlangen, haben den eigentlichen Lernweg nicht verstanden.

Emil Darrenhofer: Ja, da stimme ich zu, wobei wir natürlich die Komponente des Sozialen als Horizont für die Problemdefinition noch einarbeiten müssen.

Norman Schultz: Natürlich, das machen wir gleich noch. Es ist einfach zuviel, was hier gesagt werden muss, was sicher auch damit zu tun hat, dass Nähe zu einer guten Theorie oftmals hohe Grade an Abstraktheit aufweist. Soziale Klärung ist dann das Ziel. 

Emil Darrenhofer: Ich muss natürlich eingestehen, dass eine Reduktion von Komplexität auch etwas mit Lernen zu tun hat, aber das ist wieder ein weiterer Teilbereich.

Norman Schultz: Brechen wir es daher nochmal auf eine einfache Frage herunter: Was aber machen Studenten anders, die im Studium schlichtweg erfolgreicher sind?

Emil Darrenhofer: Hier zeigt sich vor allem, dass Organisation ein Weg zum Erfolg ist. Ein erfolgreiches Studium ist zum Beispiel stark von der Selbstorganisation abhängig. Wir aber erreichen wir diese gute Organisation? Meines Erachtens geht dies auf ein entsprechendes Coaching zurück. Lernen stattdessen auf simple Lerntechniken herunter zu brechen ist der Kardinalfehler.

Norman Schultz: Was meinen Sie mit Selbstorganisation und Coaching?

Emil Darrenhofer: Nun dies bedeutet eben nicht, eine wundersame Lerntechnik zu entdecken, sondern überhaupt erstmal das Leben zu ordnen, das heißt, eine gewissen Kontinuität in die Lern-Algorithmen zu bringen und über lange Strecken hinweg systematisch zu erkennen, welche Vorgehensweisen Erträge bringen. Für denjenigen, der diese Straße allein gehen muss, ist es ein beschwerlicher Weg. Die meisten nehmen dabei schnell die Prokrastinationsabzweigungen, denn komplexe Lernstrategien erwerben wir nicht im Nebenbei, sondern sie sind Resultate eines sozialen Prozesses. Da das direkte Gefühl des Erfolgs erstmal ausbleibt, können wir Lernen zumeist nur durch intensive Beratung erlernen. Wir bekommen es von unseren Eltern, die selbst Lerner sind, oder aber durch Freunde, die ähnliche Interessen verfolgen. 

Norman Schultz: Sie meinen also, und wir haben es ja schon häufig angedeutet, dass es auf das soziale Umfeld ankommt.

Emil Darrenhofer: Natürlich ist dies entscheidend, hier wirken die Vorbilder nicht medial, so dass sich der viel gescholtene Productivity-Porn ergibt, sondern in Verflechtung mit dem eigenen Leben spiegeln im Sozialen. Der Freund, der uns auch in unseren Fehlern nah bleibt, kann unsere Fehler sehr gut korrigieren. Strategien von Freunden werden viel eher intuitiv imitiert, wobei Freunde uns zugleich auch reflektieren. Hier findet eine unglaubliche soziale Multiplikation von Lern-Energien statt. Dabei kommt es natürlich darauf an, dass diese Freunde nicht zum Heer der Berufstudierenden zählen. Ich meine die Studenten, denen nur ein Studientitel zählt und dabei in ihrer Freizeit wenig Interesse an Persönlichkeitsentwicklung haben. Ich gehöre zu der Fraktion der Abstinenzler, die bezweifeln dass sich unter den Bierschäumen, unten am Bierglas Erkenntnis verbirgt. In so ein soziales Umfeld hinein zu geraten ist nicht viel wert.

Norman Schultz: Aus der Sozialforschung wissen wir hierbei sehr genau, dass Kinder aus der Oberschicht größere Chancen auf außerordentliche Studienwege haben als Studierende aus der Unterschicht (Im Allgmeinen wird dies unter Sekundäreffekten diskutiert, das heißt, die Schulwahl hängt bereits von der Schichtzugehörigkeit ab. Bei den Primäreffekten tritt die so genannte kulturelle Ausstattung in den Vordergrund). Der soziale Klassenbegriff ist natürlich unscharf und problematisch hier. Aber hinter der Geburt in ein kontingentes Leben verbirgt sich, wie so oft, unsere Schicksalsschlagader, eine natürliche Ungerechtigkeit.

Lehren wird bei den eigenen Kindern schnell zum Belehren - Vorleben ist wohl besser

Emil Darrenhofer: Nun, eine Ungerechtigkeit würde dann bestehen, wenn Unterschichtler aufgrund ihrer Schichtzugehörtigkeit keine Chance bekämen, in die Oberschicht aufzusteigen. Das mag auch in vielen Fällen der Fall sein. Ich glaube aber, dass zumeist Unterschichtler ähnliche Chancen haben, ihnen fehlt nur das Wissen, diese Chancen zu nutzen und den entsprechenden Lebensweg einzuschlagen.

Norman Schultz: Ich möchte das eigentlich bezweifeln. Können Sie dies näher erläutern.

Emil Darrenhofer: Natürlich, wenn Eltern ihren Kindern, die Realschule empfehlen oder Studenten lächerlich machen, weil die abgehoben reden und somit die wirklichen Wirklichkeiten verkennen, dann fehlt ihnen hier schon die Einsicht, was den Ausstieg aus den unteren Klassen ermöglicht. Mein Mitbewohner, Koch, wollte niemals, dass weitere Studenten bei uns einziehen. Mit hochgezogene Augenbrauen erklärte er mir dann irgendwann: „Meene Schwesta will studier’n.“ und ergänzte es mit seiner Lebensweisheit: „Ick hab ihr jesacht, se soll inne Jastronomie arbeeten, da find se imma Arbeet.“

Es ist natürlich unfair, das hier so zu herablassend zu formulieren, aber mit zunehmender Qualifikation ist den Menschen unklar, was in den Bildungsbereichen eigentlich noch gearbeitet wird. Natürlich kann auch ein Realschüler aus einer „Unterschicht“ einen ordentlichen Lebensweg bestreiten, aber mit den zunehmend differenzierteren Bildungsschichten ist die Wahrscheinlichkeit deutlich geringer und er wird in der Gastronomie beispielsweise einen minderqualifizierten, womöglich stark fordernden Job erledigen müssen, der weniger Möglichkeiten zur Entwicklung bietet. Es ist nun so, dass Eltern aus der Oberschicht schon viel früher über die passenden Studienmöglichkeiten der Kinder beraten, während bei anderen noch die Frage besteht, ob das Kind überhaupt aufs Gymnasium soll oder lieber gleich Geld verdienen soll, damit es nicht mehr auf der Tasche liegt.

Norman Schultz: Ich habe das selbst erlebt, als bei mir die Frage noch aus stand, ob ich überhaupt studieren will, war es bei einer befreundeten Familie, wobei ein Elternteil sehr anerkannter Professor war, bereits Thema, auf welche Stipendien sich die Kinder bewerben. Das war zwei Jahre vor dem Abitur und sie haben lässig am Abendbrotstisch darüber reflektiert. Das heißt richtiges Lernen hängt vom sozialen Umfeld ab?

Emil Darrenhofer: Ich gehe davon aus. Eltern, die selbst Akademiker sind, geben ihren Kindern nicht nur hier und dort einen Hinweis, wie die Ratschläge, die wir bereits diskutiert haben, sondern einen ganzen Lebensweg mit. Diese Lebenswege lassen sich nicht in ein paar Lerntipps verpacken.

Norman Schultz: Damit sprechen Sie wieder unser Hauptproblem an: Ratschläge, wie wir richtig studieren.

Emil Darrenhofer: Natürlich und diese müssen von der reinen Reduktion her auch nicht falsch sein. Allerdings kann eine langfristige Umschulung auf ein angemessenes Lernverhalten nur durch gezieltes Coaching erfolgen. Erst dann ist es wichtig, ob wir Karteikarten benutzen oder eine andere Lerntechnik benutzen. Die Informationen, die dabei auf den meisten Seiten zu finden sind, sind daher unterkomplex. Ich möchte hierbei drei Fehler verdeutlichen:

Erstens, finden wir Informationen, die zumeist auf Erfahrungswissen basieren, das heißt im Grunde nichts anderes, als dass da jemand ist, der sich mal ausdenkt, was wir so machen sollen, weil es bei ihm ja irgendwie funktioniert hat. Derjenige schreibt dann Texte, wie ein blindes Huhn, das auch mal einen Korn trinkt.

Norman Schultz: Ein Kalauer!

Emil Darenhoffer: Stimmt. Aber nochmal: Diese Tipps helfen wenig, zielen aber eher auf das subjektive, eben beinah trunkene Gefühl, etwas richtig zu machen. Sie verwechseln Glückstreffer mit Wissen. Bei diesen Methoden muss ich anmerken, dass ohne Bezug zu Studien dies keine geeigneten Methoden sind. Das ist so als wenn sie Medikamente nehmen, die nicht in Doppel-blind-Versuchen bestätigt wurden.

Zweitens, gibt es dann zwar auch Blogs oder Lernratgeber, die Studien einbeziehen, aber selten wird dabei systematisch gewichtet. Studien werden, wenn überhaupt, herangezogen, um eine simple Lerntheorie zu fundieren, die Lernstrategie wird aber weder diskutiert, noch überhaupt für den Leser deutlich gemacht.

Drittens, sind die Tipps, wenn sie denn mal richtig sind, zu unklar, um effizient in den Alltag eingebaut zu werden. Wir brauchen einen sozialen Rahmen, eine Gesellschaft, die alle diese drei Bereiche berücksichtigt. 

Norman Schultz: Das ist natürlich auch Thema meiner Doktorarbeit, nämlich wie sich Wissen, einerseits in Bezug auf Wahrheit verhält, wie es systematisiert werden muss und wie dies nur das Soziale erreicht. Aber haben Sie dafür vielleicht ein Beispiel?

Emil Darrenhofer: Natürlich Sie können leicht jemanden erklären, dass die ganzen Textmarker überflüssig sind, dieses ganz bunt Anstreichen und dass auch zweimaliges Lesen eines Textes nicht viel bringt. Sie können über das Empfehlen hinausgehen, denn es gibt mittlerweile einige Studien, die belegen, dass dies sinnlos ist. Doch was dann? Von einem Lerntipp verändert sich ja nicht das gesamte Lernverhalten. Der Fehler liegt, wie eingangs erwähnt, beim mangelnden Coaching, das heißt bei der fehlenden Entwicklung einer geeigneten Lebensweise, wobei dann systematisch Lernfehler ausgeschaltet werden. Diese Systematik lässt sich nicht mit dem Lesen eines Blogs, mit der Gründung eines Blogs und auch nicht mit einer simplen Kritik unserer Bildungsinstitutionen erwerben. Im Gegensatz habe ich das Gefühl, dass gerade die Institutionen als Grund dafür herhalten müssen, dass wir nichts lernen.

Norman Schultz (ich muss lachen): Aber es ist doch allen so gut wie klar, dass wir doch nichts in diesen Institutionen lernen.

Emil Darrenhofer: Nun Sie haben in diesen angeblich schlechten Institutionen sehr viel gelernt: Lesen, Schreiben und Rechnen. So einfach uns diese grundlegenden Kulturtechniken aus der Perspektive eines Könners erscheinen, sie sind Resultat jahrelanger Konditionierung. Bedenken sie, dass zum Beispiel auch Karl der Große nicht lesen konnte, obwohl er ja direkt an der Wissensquelle saß. Man lernt das nicht einfach so. Andere Klosterschüler, waren noch fasziniert, dass Thomas von Aquin leise lesen konnte, auch eine Technik, die wir heute einfach so beherrschen.

Das alles heißt aber nicht, dass ich die Schulen und Institutionen vorbehaltslos rechtfertigen will. Ich will aber sagen: Wir übersehen zu schnell, dass sie doch eine Menge bereits leisten. Statt daher die Institutionen zu kritisieren würde ich mir eher eine stärkere Kritik der Bildungsökonomie im Privaten wünschen, denn mit Familie und Freunden bilden wir unser wirkliches Verhältnis zum Lernen und Wissen aus. Das, was die Schule durch Konditionierung und die historisch-gewachsene Systamtisierung erreicht, sollte Eingang in unser Privates finden.

Norman Schultz: Und warum im Privaten?

Emil Darrenhofer: Viele erwarten von den Bildungsinstitutionen mehr Freiheit für das Lernen, doch das ist ein grundlegendes Paradox. Institutionen reglementieren aufgrund ihrer Natur schon (das steckt im Namen, Institution und Revolution sind beinah Antonyme). Institutionen schaffen durch Reglementierung, Entlastung und somit Bildungsfreiräume außerhalb der Institution. Sie kennen sicher den Stress, von jemandem der Leben und Arbeit niemals trennt?

Norman Schultz: Ich kenne es, und erkenne zunehmend an, dass eine Trennung unter einigen Umständen sinnvoll ist.

Emil Darenhofer lacht: Sie haben Recht, ich will das nicht als Doktrin vorschreiben. Aber im Moment ist es so, dass Eltern aufgrund der Lesekonditionierung von der Schule entlastet werden. Der Lehrer ist automatisch der böse Sklaventreiber, der die Freiheit der Kinder nicht versteht. Die Eltern werden momentan zu den Guten, die ganz genau wissen, wie Schule sein müsse. Wie Infotaiment soll Schule sein. Als würden wir dabei lernen.

Ich sehe das jedoch etwas anders: Was ich in der Schule lerne, soll mir Techniken geben, die ich erst in meiner Freizeit in Bildung umschmelze. Das ist ganz zentral. Techniken werden durch bestimmte Konditionierung erworben. Bildung ereignet sich mit Technik und Freiheit. Wichtig ist nun: Wir brauchen dann auch Freizeit, um Freiheit für Kinder zu erhalten. Aufgrund dieser Prämissen gehöre ich zu denen, die glauben, Schule sollte noch strenger sein, dafür allerdings auf den Vormittag und auf wenige Fächer beschränkt werden. Ich bin für noch stärkere Konditionierung in der Schule und glaube, dass wir uns von dem Gedanken befreien müssen, dass Schule tatsächlich Bildung vermitteln könnte. Wir sollten nicht versuchen, jedes Fach, das uns in den Sinn kommt, in eine schulische Ausbildung zu integrieren, nur weil es gerade en vogue ist. Dieser Aktionismus muss  aus zwei Gründen schief gehen. Einerseits können Institutionen nicht schnell genug auf Marktanfordernisse reagieren. Institutionen können nicht revolutionieren. Wie bereits angedeutet, diese Begriffe sind diametral entgegengesetzt. Schule soll dann einmal Internet unterrichten, dann wieder Ethik, dann doch nochmal Medien. Schulen verlieren damit ihr Profil, nämlich Grundkenntnisse zu vermitteln und als Folge glauben alle, Schule sei für Bildung zuständig, so als könnten dann der Hauptschüler nicht mehr gebildet sein. Was natürlich Quatsch ist, auch Hauptschüler können gebildet sein.

Ich plädiere daher dafür, dass stattdessen die außerschulischen Bildungsangebote für die Entwicklung von wahren Persönlichkeiten frei gemacht werden, während Schule wieder auf solide Grundkenntnisse in Übersetzung, Rechnen, Mathematik, Lesen und Schreiben zurückgeführt werden.

Norman Schultz: Was denken Sie dabei über die Philosophie?

Emil Darrenhofer lacht: Wenn es kein ethisches Gequatsche ist, wo wir ständig nach unseren Meinungen fragen, so ist Philosophie als die Grundtechnik der Wissensgewinnung anzuerkennen. Argumentstrukturen und Logik finden ihre Begründung in der gewissenhaften ontologischen Forschung. Hier stimmen wir beide mit Sicherheit überein. Aber wissen Sie, im Moment haben wir Status quo. Schulen müssen Bildung miteinbeziehen, weil wir keinen Sinn für die Unterscheidung zwischen institutionalisierten Techniken und Bildung in der Freizeit haben. Im Status Quo ist Ethik womöglich gar das wichtigste Fach und noch vor Logik, Ontologie und Erkenntnistheorie anzusiedeln. Also brauchen wir im Moment womöglich diese „Laberfächer“ als Lebensfächer, aber eigentlich sollte das in der Freizeit eine Rolle spielen, wie ich es eben versucht habe, anzudeuten.

Norman Schultz: Ich muss hinzufügen, dass ich mir eher eine philosophische Ausbildung im systematischen Aufbau von Wissenschaft wünschen würde. Ich sehe, dass das Wissen um das Wissen selbst bei Lehrern weit, weit, weit weg ist. Mein Physiklehrer meinte beispielsweise immer, dass er die Relativitätstheorie so interessant fände, weil es dabei philosophisch werden würde. „Philosophisch“ als würden wir uns mal ans Lagerfeuer setzen, um über den Sternenhimmel nachzudenken. Er führte dann das Philosophische ein, nur um uns dann den krudesten Materialismus vorzuschlagen, der in der Philosophie seit Jahrhunderten, wenn nicht seit Jahrtausenden schon als veraltet gilt und nicht als Philosophie zu bezeichnen ist, sondern eigentlich nur als wissenschaftstheoretisch naiv. Es tut weh zu wissen, dass die Technikvermittler ihre Autorität ausnutzen, um diesen wissenschaftlichen Unfug zu verbreiten.

Emil Darrenhofer  lacht wieder: Ich muss Ihnen aber gestehen, dass dies von mir auch nur halbgare Hypothesen sind. Ich denke über die stärkere Instutitonalisierung der Schule nach, weil es für mich ein Gegengewicht zu der Auffassung darstellt, dass eine Befreiung von der Schule der Weg der Zukunft sei. Ich bin mir beispielsweise nicht sicher, inwieweit Lesen einfach konditioniert werden muss oder inwieweit es auch kreativ und mit Spaß vermittelt sein könnte. Mir erscheint jedoch, dass wir den Wert der Konditionierung in der ewigen Bildungsreform aus humanistischer Sicht klein reden. Bildung muss da angeblich so frei sein, dass man sich fragen muss, was das dann für eine Freiheit sein soll.

Norman Schultz: Ich stimme ihnen zu: Freiheit ist zu einem Schlagwort geworden und das moderne Individuum mag es nicht mehr mit dem Wort der Pflicht vermengen. Da würde gar ein Kant zu einem Preußen degradiert werden, weil er es doch wagte Freiheit und Pflicht in eine Waagschale zu werfen, obwohl dies nun aus systematischer Sicht so gut wie unvermeidlich ist. Nun gut, aber ich merke auch, dass wir weit vom Weg abgekommen sind. Was empfehlen Sie daher nun konkret, um im Studium besser zu werden?

Emil Darrenhofer: Am besten wäre natürlich eine Art Personal Trainer wie im Sport. In bestimmten Mannschaftssportarten holen sie dich einfach ab und du wirst auf einem gemeinsamen Weg zur Elite geformt. Die Hollywoodstars engagieren sich Körpermacher.

Norman Schultz: Um ein anderes Beispiel hinzuzufügen: Der Schachweltmeister Magnus Carlsen hatte seit seiner Kindheit von seinen Eltern immer Coaches zur Verfügung gestellt bekommen, später dann gar Gary Kasparow. Für eine Weltmeisterschaft im Schach zählt ein Team von anderen Großmeistern, die natürlich auch täglich den Trainingstag motivieren.

Emil Darenhofer: Gleiches sollten wir im Geistigen versuchen, allerdings sehe ich, dass dies dort viel schwieriger voran geht, da wenige sich vorstellen können, eine gegenseitige regelmäßige Coachingzone einzurichten und es dann womöglich auch zu viele Schwierigkeiten gibt, diese Coachings in der Gruppe abzusprechen, oder Menschen auf eine Wellenlänge zu bringen. In diesem Sinne wäre es dann sinnvoll tatsächlich Coaches anzuheuern, wobei dies wieder mit finanziellen Problemen verbunden ist. Wenn jedoch jemand wirklich langfristig sein Lernen verbessern will, dann gibt es nicht die Technik, sondern dann sollte er sich gute Coaches leisten. Aber auch hier ist Vorsicht geboten, einige Coaches haben auch nur gefährliches Halbwissen zu bieten. Bei dem Überangebot an Menschen, die Coachings versprechen, aber im Grunde genauso reliabel wie Esoteriker sind, möchte ich es eigentlich nicht empfehlen. Und nur zu einem Coach einmal die Woche zu gehen, der einem sagt, was man machen soll, funktioniert nicht. Im Sport kommt der Personal Trainer und trainiert. Hier brauchen wir Konzepte und ich frage mich, warum ich davon so wenige sehe.

Norman Schultz: Das ist eine gute Frage, die wir ein anderes mal diskutieren sollten vielen Dank für das Gespräch.

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Norman Schultz, Juli 2015, Pittsburgh

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