Lernen und die Systematizität im Sozialen – Im Gespräch mit Emil Darrenhofer über Lerntaktiken, Lernstrategien, Schule und den ganzen Rest


Emil Darrenhofer ist Bildungsforscher. Sein Schwerpunkt liegt auf Lerntechniken und Lernmethoden. Im Rahmen meiner Dissertation arbeite ich an der Frage, wie Wissen nur im Hinblick auf Systematizität zu verstehen ist. Aus unserer Korrespondenz und unseren Gesprächen zum Lernen haben wir ein Gespräch zusammengestellt, das wesentliche Fragen zur Lernforschung angehen soll, und auch Stellung zur gegenwärtigen Bildungskritik bezieht. Im Vordergrund steht die Frage, wie wir beim Studieren richtig lernen. Das Gespräch hat mehrere Teile, wobei wir hier den ersten veröffentlichen.
Norman Schultz: Herr Darrenhofer, was können sie hinsichtlich der Arbeitstechniken beim Studieren empfehlen?
Emil Darrenhofer: Lassen Sie es mich punktuell und radikal formulieren: Der Markt der Lerntechniken ist weit, unübersichtlich, und das Schlimmste, verseucht. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie dort die richtigen Produkte finden können, aber Marketing macht mit Sicherheit den größten Teil dessen aus, was sie finden werden. Die meisten Marketer verschießen leere Worthülsen und bieten ungetestete Versprechen an. Wenn sie Glück haben, finden sie unter den vielen Lerntipps keine, die ihnen den Zugang zum Arbeiten verbauen.
Norman Schultz: Haben Sie Beispiele?
Emil Darrenhofer: Die sollten wir detailliert besprechen. Meine Hauptpunkte sind hier die Versprechen der Speed-Reader-Community, der Glaube an Gedächtnistricks und das, was Sie eben in Form von Ratgebern überall finden. Wir sollten diese exemplarisch abarbeiten, aber lassen Sie mich zuvor ein paar Dinge erwähnen: Die Meisten Menschen glauben immer noch an Wunder. Irgendwo wird es demnach schon so einen Nürnberger Trichter geben, der uns das Geheimnis der perfekten Persönlichkeit erschließt, innere Tore aufstößt und uns einfach mal Genie sein lässt. Ich im Gegensatz glaube, unser Gehirn ist stabil. Persönlichkeitsveränderungen, wozu ich Lernen hinzuzähle, finden nicht über Nacht statt, sondern bedürfen Jahre. Um wirklich zu lernen, muss sich unser Gehirn grundlegend verändern und das passiert nicht durch irgendwelche Kniffe aus der Trickkiste.
Norman Schultz: Zu dieser Persönlichkeitsentwicklung sagt der Neuroforscher Gerhard Roth daher auch Folgendes:
„In der menschlichen Entwicklung gibt es alles, nur eines nicht: Dass ich mir vornehme, mich zu bessern, und von Stund an ein besserer Mensch bin. Wenn ich mich wirklich bleibend ändern will, müssen vor allem die tieferen Schichten verändert werden.“ (Quelle: Artikel zur Persönlichkeitsveränderung)
Lernen ist nicht etwas, das von heute auf morgen geschieht. Ich nehme nicht eine Woche Klavierstunden und bin Pianist. Deswegen lassen sie uns zu den Beispielen kommen. Warum kommen wir mit Lernratgebern nicht voran?
Emil Darrenhofer: Ach, ich habe gerade eine Episode vom Tim-Ferriss-Experiment gesehen, in der sich der Held der Episode vornimmt, innerhalb von fünf Tagen eine fremde Sprache, nämlich Taglog, zu lernen. 

Blickt man hinter den aufwändigen Schnitt der Episode, so erkennt man, dass ihm das nicht wirklich gelungen ist. Ein paar Tricks angewandt auf ein paar Tage reichen nicht aus, um ein natürlich gewachsenes Kommunikationsmittel auf ein Gehirn zu pressen. Sprachenlernen funktioniert nicht darüber, mit ein paar Tricks Wortgruppen auswendig zu lernen und sie irgendwo durch kreative Bildchen zu verankern. Eine Sprache ist eine eigene Welt und muss als eigene Welt gelebt werden. Ich glaube sein Vorhaben ist so ähnlich absurd, wie Deutschland in fünf Tagen zu erkunden und es dann zu kennen. Nein, da helfen uns Gedächtnistricks auch nichts. Es kommt auf eine langfristige Strategie an und vor allem auf Zeit.

Zweitens, ebenso suspekt sind mir eben diese Gedächtnistricks. Natürlich können wir uns Dinge mit verschiedenen Routentricks gut merken. Unser Gehirn speichert Umgebungen in einer Art neuronalen Kopie, daher können wir vermittels von Routen wirklich sehr gut, Fakten einprägen. Aber hier liegt der Fehler: Was hat denn das zufällige Ablegen von Fakten auf einer Route mit dem Erlernen einer komplexen Fähigkeit zu tun? Wer zum Beispiel Medizin studiert, will Knochen nicht irgendwo in einem imaginieren Palast ablegen. Das hilft vielleicht dabei Prüfer auszutricksen. Aber beim wirklichen Lernen will er will aus komplexen Symptomen Schlüsse ziehen können. Das aber heißt Intuitionen erwerben und das passiert nicht beim Memorieren von einzelnen Daten, sondern bei der Auseinandersetzung mit den Daten im Detail. Die Daten müssen bei einer komplexen Fähigkeit direkt vorliegen, wie in einem Random-Acess-Memory. Dieses Memorieren aber muss anders erfolgen. Es geht vor allem darum den Lernstoff zu Leben und nicht Zirkustricks zu erwerben. Das zu Erlernende muss gelebt werden, zugleich auch immer wieder analytisch untersucht werden. Sich eine Zahl wie Pi auf viele Stellen hinter dem Komma merken zu können, ruft vielleicht Erstaunen (Mein Artikel zum Gedächtnispalast) hervor, mehr aber auch nicht. Ich glaube allerdings wir brauchen heute derlei Gedächtnispaläste nicht mehr, denn es ist doch so, dass Erlerntes eher eine zweite Natur sein soll, als dass man irgendwo in der Erinnerungskiste kramt und in irgenwelchen Gedächtnispalästen endlos spaziert. Wer zum Beispiel ein Gespräch führt, der erinnert sich nicht an Worte, sondern die Worte sind Teil der Aktivität.

Drittens: Abgesehen von diesen Spielereien gibt es Angebote, die nicht nur Zeit nehmen, sondern tatsächlich auch schaden. Hierzu zähle ich die Speedreader. Dort verspricht man schnelleres Lesen durch die Reduktion von Subvokalisation und Vermeidung von Regression zu erzielen. Ich hingegen glaube (und dabei bin ich nicht allein, denn die Michelmanns, führende Experten in diesem Bereich, vertreten dieselbe Auffassung), dass diese Angebote unsere Lesefähigkeit beschädigen.


Norman Schultz: Zu dem Problem mit dem Schnellleseaneboten kommen wir in einem späteren Teil noch. Im Folgenden haben wir uns erlaubt ein beliebiges Beispiel zu erwähnen, um die Oberflächlichkeit der angebotenen Versprechen zu demonstrieren. Hierbei handelt es sich um kein direkt kommerzielles Produkt. Bei folgendem Video, das es bei Google immerhin nach ganz oben in der Trefferliste schafft, lässt sich sehr gut erkennen, wie im Grunde die meisten Internetvideos nur ein paar Ratschläge zusammenklamüsern, aber keine Diskussion entfalten, keine Systematik entwickeln und somit keinen wirklichen Nutzen haben und auch nicht als Wissen zu bezeichnen sind.
Warum jedoch ist das ausgewählte Video so hoch im Google-Index? Es werden bestimmte Keywords so hergestellt, Backlinks so generiert, dass nach und nach Google den Inhalt als relevant bestimmt. Mit tatsächlicher Qualität hat das nicht viel zu tun. Und hier sei auch in einem Seitenhieb bemerkt, die gesamten TED-Konferenzen, die vielleicht von der Qualität her besser sein mögen als dieses Video dort, sie sind nicht mehr als Sesamstraße für Erwachsene. Warum Infotainment wenig mit Bildung zu tun hat, besprechen wir ebenfalls in späteren Abschnitten, aber es sollte klar sein, dass so wie Kinder das Alphabet nicht mit der Sesamstraße lernen, wir eben auch nicht viel lernen, wenn wir noch so viele Videos über Mathematik oder Physik konsumieren. Gleiches gilt für diese Lernvideos auf Youtube: Ohne Systematizität bleiben sie wirkungslos.
Und noch eines sei hinzugefügt: Viele glauben ja daran, dass die Bildungsrevolution gerade mit diesen Videos stattfinden würde. Diese Revolution wurde allerdings schon früher mit dem Radio und Fernsehen angekündigt. Gekommen ist sie jedoch nicht. Wir sitzen immer noch in Klassenzimmern und versuchen komplexe Fähigkeiten in diesen merkwürdigen Verbänden zu erwerben. Vielleicht hat es ja doch irgendwo einen Sinn? Auch dies werden wir am Ende unserer Gespräche weiter herauskristallisieren.
Im Gegensatz ist der Bildungsporno so etwas wie 3sat und Arte zu schauen. Wie aber Meulemann schon 2000 feststellte, ist der Konsum dieser Sender bei Gebildeten und Ungebildeten anteilig gleich niedrig. Man könnte auch sagen, Gebildete schauen nicht mehr Arte oder 3Sat, sondern im Schnitt den Gleichen Unterhaltungsmist und auch die „Dummen“ bleiben entgegen der Vermutung so einiger Bildungsbürger oft auf 3 Satz oder Arte hängen. Diese Gleichverteilung liegt schlicht daran, dass das Medium „Fernsehen“ ungeeignet ist, um zu lernen. Bildung und Lernen passiert in anderen Medien, die wesentlich subtiler sind und so zeigt Meulemann auch, dass Gebildete nicht etwa Fernsehen schauen, sondern zur politischen Meinungsbildung auf andere Medien wie Zeitung oder Bücher zurückgreifen (siehe Artikel dazu hier). In anderen Worten, wirkliche Bildung finden nicht mit passiven Medien statt. Der Konsum ist nie das richtige Mittel, sondern produziert nur ein paar vage Meinungen. Mit Bildung meinen Herr Darrenhofer und Ich daher vor allem eine aktive Variante und dieses wollen wir im Hinblick auf soziales Lernen ausbuchstabieren.Quelle: Meulemann, Heiner. Medienkonkurrenz – Wandel und Konstanz der Nutzung der tagesaktuellen Medien in Deutschland 1964-2000 In: Aretz, Hans-Jürgen / Lahusen, Christian. Die Ordnung der Gesellschaft – Festschrift zum 60. Geburtstag von Richard Münch 2005
Bevor wir aber alles vorweg nehmen, hier zunächst ein Video, an dem sich die Nutzlosigkeit von Lernratgebern sehr gut demonstrieren lässt:
 

Zusammengefasst:

  • Lern-Inhalte auf Karteikarten! Solltest du auf jeden Fall immer und überall einsetzen! Warum? Hm…
  • Male die ein paar bunte Mindmaps! Mindmaps sind nämlich überzeugend!
  • Lerne mit alten Prüfungen. Vielleicht nicht falsch, aber was nun?
  • Mach doch mal ein bisschen Zeitmanagement. Zeitmanagement ist schließlich für alle gut.
  • Zu guter letzt, mach doch eine Lerngruppe auf. 

Emil Darrenhofer: Sicher sind die Lerntipps nicht falsch. Ich glaube nicht, dass sie uns schaden, aber es mangelt an wesentlicher Begründung, warum es bei der Dame offenbar funktioniert und bei anderen nicht. So wie sich viele Menschen Sport vornehmen, so nehmen sich viele etwa auch Zeitmanagement vor.

Norman Schultz: Ich stimme zu: Viele schreiben Karteikarten und doch versagen sie, so wie ich in der Schule. Im Vergleich heißt es jedoch bei Wikipedia schon prägnant:

Wie die Lehrmethoden und die Didaktik sollten die gewählten Lernmethoden auf den Erkenntnissen der Lernpsychologie bzw. der Pädagogischen Psychologie aufbauen, um möglichst erfolgreich zu sein.[1] Dies bedeutet, dass effektives Lernen eines längerfristigen systematischen Aufbaus bedarf.
Emil Darrenhofer: Ja, das ist richtig. Diese Beurteilung kann allerdings zumeist von den Könnern nicht hergestellt werden. Sie geben ein paar Tipps aus der Trickkiste, die bei Ihnen auch häufig zur Anwendung kommen, aber das heißt nicht, dass sie bei anderen wirken oder eben das Wesentliche am Lernen sind.
Norman Schultz: In meiner Doktorarbeit versuche ich zu zeigen, dass der wesentliche Punkt der Wissensgenerierung nicht in dem beliebigen Zusammentragen von Punkten und Informationen besteht, auch natürlich nicht im Erlernen von einzelnen Daten, sondern im systematischen Aufbau. Eine systematische Struktur ergibt sich jedoch nicht einfach aus bereits bekannten Algorithmen (zu Algorithmen zähle ich Karteikartentechniken oder andere erworbene Lernkompetenzen, die wir häufig anwenden. Unter ganz besonderen Umständen können diese Algorithmen natürlich hilfreich sein. Das Problem ist aber, dass sie nicht immer funktionieren). Der systematische Aufbau des Lernens muss sich im Gegensatz nicht an Algorithmen orientieren, sondern mit einer Strategie erfolgen. Das heißt, die meisten Lernprobleme sind nicht mit konkreten Lerntechniken zu bewältigen, so wie beispielsweise, wenn du A willst, dann musst du genau B tun. Es sind keine hypothetischen Imperative der praktischen Klugheit, wie Kant es sehen würde und wofür wir häufig das nichtssagende Beispiel bemühen: Wenn du Klavier spielen lernen willst, dann musst du Üben.

Ich möchte den praktischen Imperativ anders formulieren! Es gibt bei einer systematischen Struktur nicht die Allgemeine Anweisung, die überall funktioniert. Stattdessen ist eher so zu denken, wenn du A willst, dann musst du tun, was aus den gegebenen Umständen am Ehesten zu A führt. Diese Umwandlung bezeichnet ein eher strategisches Vorgehen, was sich nicht aus Plausibilitätsschlüssen ergibt (die deduktiv sind), sondern induktiv verfährt. Es gibt keine eindeutigen Resultate, sondern ist konfus

Faces-nevit

Der Schatten des Sozialen - By Nevit Dilmen (Inkscape), via Wikimedia Commons

Statistik kann hier sehr gut helfen, das heißt ich versuche mich irgendwie an Daten meines Lernens zu orientieren und dann im Hinblick auf diese Daten Ableitungen zu erzielen. Die Frage ist daher wie Lernerfolge generiert werden, und dabei heißt es auf oben genannte Tipps erstmal zu verzichten, bevor man sich darauf versteift. Strategisches Lernen wird dann zu einer Frage des Sozialen…
Emil Darrenhofer: Ich stimme zu. Wir dürfen eben nicht denken, dass es eine präzise Anweisung gibt, die es genau zu befolgen gilt. Wir verlangen zum Beispiel häufig von der Medizin, dass sie genau und präzise heilt, aber das, was Mediziner tun, entspricht eher einem strategischem Vorgehen, wobei der Erfolg niemals genau gesichert ist. Ihre Ausführungen zum System sind natürlich sehr kurz, aber ich möchte wesentlich auch den letzten Punkt betonen, nämlich dass Lernprozesse vor allem sozial gestaltet sein müssen. Sie müssen sozial sein, weil sie nicht taktisch angegangen sein wollen, das heißt aus der Perspektive des Einzelnen mit seinem endlichen Wissen. Es geht nämlich nicht um die isolierten Techniken, wie zum Beispiel mit Karteikarten zu arbeiten, zu unterstreichen oder um angebliche Lerntypen (warum die Theorie von den Lerntypen Unfug ist, habe ich bereits hier dargelegt). Im Gegensatz geht es um langfristige Planung, die tatsächlich im sozialen Rahmen stattfindet. Strategien entwickeln Menschen, die zusammen verschiedene Ansätze finden, weil die schiere Anzahl an taktischen Varianten zu groß ist.
Aus diesem Grund muss Schule auch versagen, insofern das Erlernte sozial nicht weiter umgesetzt werden kann. Zwar strukturiert die Schule Lernprozesse abstrakt systematisch, überlässt aber zumeist die soziale Arbeit den Schülern selbst, wobei dann einige natürlich im familiären Umfeld nicht die nötige Unterstützung finden, die aber zum wirklichen Erlernen der Inhalte notwendig ist. Einige haben Glück und finden in interessierten Freundeskreisen Vertiefung des Lernstoffs, andere versumpfen in Diskussionen über Pop-Kultur. Ein Gestus unsere Aufmerksamkeitsverteilung: Stars bestechen durch ähnliche Ungelerntheit, weil Jugendliche nicht nur Lehrer suchen, sondern zunächst Bestätigung. Die Starkultur ist eine Bestätigung unserer Trägheit, ein Kosmos der Durchschnittlichkeit in jeglicher Hinsicht. Das Soziale aber kann auch potentierend wirken: Wir profitieren hier von den Erfahrungen anderer, wenn wir nicht alle taktischen Varianten durchspielen müssen. Deswegen erfindet niemand die gesamte Mathematik aus einem ursprünglichen Genius heraus, deshalb steht Entwicklung immer in der Geschichte. Geschichte ist das treibende Moment unserer Bildung, und Geschichte ist der soziale Horizont unserer Gegenwart.
Norman Schultz: Vielleicht können wir es erstmal bis hierher auf den Punkt bringen: Worauf kommt es im Lernen an?
Emil Darrenhofer: Um Einiges vorweg zu nehmen: Am besten wäre natürlich eine Art Personal Trainer wie im Sport. In bestimmten Mannschaftssportarten holen sie dich einfach ab und du wirst auf einem gemeinsamen Weg zur Elite geformt. Die Hollywoodstars engagieren sich Körpermacher. Es ist natürlich finanziell schwierig, derart zu arbeiten. Es ist aber wichtig, dass wir in diesem Sinne Schulen nicht nur als Institutionen verstehen, die uns lehren, sondern die auch das richtige soziale Umfeld schaffen und dies unterschätzen die Meisten. Ich denke wir müssen darauf nochmals später separat eingehen. Es ist aber auch ein zweiter Punkt zu beachten: Lernen geschieht vorrangig im Sozialen, weil Wissen etwas Soziales ist. Um das aber zu verstehen, sollten wir vielleicht doch noch ein paar Dinge zur Frage der Systematizität erörtern. Zur systematischen Ausbildung im Fußball haben Sie ja zum Beispiel einige Anknüpfungspunkte gemacht.
Norman Schultz: Das ist richtig, bevor wir aber zur Diskussion der Fußballausbildung vielleicht, möchte ich erst von der wissenstheoretischen Perspektive her andeuten, warum Systematizität, Wissen und Soziales zusammenhängen.
Emil Darrenhofer: Ja das wäre wohl sinnvoll.
Norman Schultz: Bei der Philosophie geht es um die Hauptfrage, was eigentlich Wahrheit ist oder besser: Was macht verschiedene Sätze eigentlich wahr? Dabei wurden verschiedene Lösungen innerhalb der Geschichte vorgeschlagen, die alle samt zu einem Problem führten, nämlich der komplizierteren Metafrage: Was macht eigentlich die vorgeschlagenen Lösungen zur Wahrheit wahr? Russel musste schmerzlich erfahren, dass das Meta-Problem zumindest nicht mathematisch lösbar ist. Dennoch haben wir Fortschritte erzielt: Wir gehen so zum Beispiel schon lange nicht mehr davon aus, dass da draußen so etwas wie plumpe Materie herumwabert, die wir schlicht in Beschreibungssätzen ausweisen. Stattdessen hat sich die Philosophie die Aufgabe in einem System zurecht gelegt, was dann eigentlich einen Holismus beschreibt oder besser gesagt und worüber der Homöopath womöglich vor Freude strahlen wird: Es geht um die Frage nach dem Ganzen, Ganzheitlichkeit. Die Frage nach dem da draußen, ist nicht unabhängig von dem Fragenden und seinem Gefragten zu beschreiben. Erst hieraus ergibt sich das Befragte. Die Philosophie ist nicht die Wissenschaft von einem einzelnen Ding, sondern tatsächlich vom Ganzen, nicht von der Beschreibung des Dings dort drüben, sondern von seiner Einflechtung in das Gesamte des Kosmos. Für mich war es so zum Beispiel immer faszinierend, dass wenn ich hier auf der Erde einen Stuhl um einen Zentimeter verrücke, sich diese Ortsveränderung noch relativ auf Lichtjahre entfernte Galaxien auswirkt. Ich möchte sagen, dass schneller als mit der Geschwindigkeit des Lichts, das gesamte Universum bis in den letzten Winkel eine andere Relation ausweist, nur weil ich hier einen Stuhl woanders hinstelle. Dieses vielleicht simultane Ganze, das schneller als Licht zusammenhängt, kann meines Erachtens nicht mit deskriptiven Begriffen erfasst werden, sondern muss theoretisch verschieden vorausgesetzt werden, um Fortschritte in der Beschreibung dieses Stuhls zu erzielen. Die Beziehung von Einzeldaten zu einem größeren Ganzen ohne dieses größere Ganze starr festzulegen, nenne ich Systematizität und ich möchte sagen, dass dies auch strategisches Wissen beschreibt, weil wir das Ganze niemals als solches Erkennen, es aber voraussetzen um Lösungen zu erreichen.
Emil Darrenhofer: Und was hat das mit Lernen zu tun?
Lightmatter chimp thinker

Von der Taktik zur Strategie: By By Aaron Logan (from http://www.lightmatter.net/gallery/albums.php) CC BY 1.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/1.0), via Wikimedia Commons

Norman Schultz: Nun, wenn ich zum Beispiel Schach lerne, so weiß ich nicht, was der beste Zug ist, aber ich kann lernen, wie ich im Hinblick auf ein Ziel gute Züge finde.  Ist zum Beispiel mein Ziel eine Figur zu gewinnen, so kann ich nach taktischen Varianten suchen und werde sehr konkrete Gründe finden. Das ist sehr einfach und viele machen ja Taktikaufgaben bis zum Umfallen. Ist aber mein Ziel in der Ausgangssituation irgendwann den König matt zu setzen, dann gibt es schlicht zu viele Möglichkeiten, um diese Aufgabe taktisch zu bearbeiten. Ich muss dann strategisch vorgehen und die Züge machen, die unter den gegeben Umständen das angestrebte Ziel wahrscheinlicher machen. Hier gibt es kein abschließbares System. Schach hat nach gegenwärtigen Schätzungen 10 hoch 50 Varianten. Zuviel um dies mit Computern endgültig auszurechnen, auch nicht in den nächsten Jahrzehnten, auch nicht bei einer enormen und überoptimistischen Steigerung der Rechenleistung. Bei superkomplexen Problemen gibt es aufgrund unserer Rechenbeschränkung keine eindeutigen Lösungen, sondern wir brauchen die richtige Strategie. Strategien aber zu entwickeln ist eine Frage der Wahl des Systems und die Wahl des Systems eine Frage des gegenwärtigen Sozialen Umfelds.
Emil Darrenhofer: Warum aber des sozialen Umfelds?
Norman Schultz: Bleiben wir beim Schach. Wenn ich mit dem Königsbauern eröffne hat der Gegner eine Vielzahl von Reaktionsmöglichkeiten. Je nach Reaktion muss ich mein System verändern, denn die Stellungen verändern sich schnell in ihrer Charakteristik. Nun ist es so, dass sich Schach immer noch historisch entwickelt. Bestimmte Systeme galten vor Zehn Jahren als unknackbar, wie zum Beispiel die Berliner Mauer, eine Variante mit der Kramnik seinen Weltmeistertitel gegen Kasparov erringen konnte. Kürzlich aber zeichnet sich ab, dass Großmeister mit der Berliner Mauer beginnen, zu verlieren.
Emil Darrenhofer: Warum ist das der Fall?
Norman Schultz: Das „Warum“ ist hier schwer zu ergründen, weil wir die Varianten nicht letztgültig bestimmen können. Ich vermute, dass Großmeister nun einen anderen strategischen Plan verfolgen, der Schwächen dieser Verteidigung offenbart. Die Frage also, ob eine Schachvariante richtig oder falsch ist, hängt vom sozialen Umfeld ab. Dies vor allem, weil die genauen Berechnungen aller taktischen Varianten zu groß sind. Ob letztlich die Berliner Mauer Teil einer idealen Schachpartie ist, das heißt einer Schachpartie, wo wir immer nur die besten Züge machen, dass lässt sich nicht einmal mit Computern ergründen. Gehen wir nun vom doch recht begrenzten Schachfeld weg und schauen in die Realität, so müssen wir sagen, dass womöglich strategisches Verhalten für unsere Welt noch wichtiger ist als auf dem Schachfeld. Wir müssen eher flexibel auf neue Anforderungen reagieren und brauchen nicht nur ein System oder noch schlimmer eine Ansammlung von Taktiken, sondern Systematizität. So wie ich im Schach auf neue Stellungen mit verschiedenen, analytischen Mitteln kreativ reagieren muss, eine neue Methode entwickeln muss, so gilt dies eben auch für das Lernen. Das heißt nun nicht, dass wir uns von allen Prinzipien verabschieden. Auf Prinzipien basiert unser Wissen, aber wir erlangen kein System, sondern wir verhalten uns nur noch systematisch, indem wir wieder neue Strategien aufbauen und unter anderen Umständen alte Prinzipien sein lassen und neue auf Grundlage der Überwindung der Alten entwickeln.

Emil Darrenhofer: Deswegen ist beispielsweise auch die Karteikartentechnik nicht unbedingt falsch. Wichtig aber ist, schnell die Grenzen zu erkennen und sein eigenes Lernsystem weiter zu entwickeln. Mit der Abhängigkeit von der Umfeldentwicklung sehe ich hier natürlich eine Parallele zum Fußball, wenn ich hier überleiten darf.

Norman Schultz: Natürlich sehen wir am Fußball ähnliche Momente. Während bestimmte Spieleigenschaften vor 10 Jahren noch als das höchste spielerische Können galten, so werden sie heute nur noch selten eingesetzt. Damit beschäftige ich mich allerdings weniger. Auch der Einsatz der Statistik wird ja bereits vielfach diskutiert. In Dänemark setzt sich das gerade in der Meisterschaft durch. Auf der anderen Seite entwickelt der Fußballtrainer Yurii Demydenko (empfehlenswerter Artikel zur Entwicklung eines neuartigen Fußballtrainings) ein sehr interessantes Intensivtraining, das auf eine sehr enge Betreuung des Fußballers setzt, wobei bei hoher Repititionsrate verschiedene, relevante Situationen durchexerziert werden. Dies ist ebenso beim dänischen Club FC Midtjylland und ihrem Freistoßtraining der Fall. Freistöße werden durch präziseres Training immer besser. Ohne hier aber auf die konkreten Details einzugehen, die in beiden Artikel wirklich sehr gut besprochen werden, wichtig ist: Die Orientierung an Resultaten kann nur durch gute Trainer erreicht werden. Der Einzelne Lerner steht da auf sehr verlorenem Posten und lernt seine Intuitionen eher ungelenkt, wenn er nicht die richtige Betreuung erfährt. Hier zeigt sich die Bedeutung des sozialen Umfelds: Geht es um Strategien können wir uns nicht mehr auf unsere Denkkraft, nämlich taktische Situationen durch Rechenkraft zu beherrschen, verlassen. Wir brauchen hingegen eine Art Stütze, die uns die richtigen Intutionen lehrt und uns notfalls korrigiert. Dieses komplexe strategische Wissen ist im Geist des Sozialen gespeichert und kann dort auch erreicht werden, aber auch nur dann, wenn sich dieses soziale Umfeld nicht auf ein System versteift, sondern Systematizität als Grundlage hat. Ich denke, dass wir das bei Herr Yurri Demydenko oder auch beim FC Midtylland sehr gut beobachten können, denn sie lassen sich nur von den Daten lenken, die sie anhand von vorläufiger Systemprämissen interpretieren, aber auch ständig erweitern. Ich kann nicht umhin als gerade das als wissenschaftlich zu bezeichnen.
Dies war der erste Teil und es folgen drei Weitere. Wenn ihr mir weiter folgen wollt, dann added mich doch bitte bei Google+. oder tretet der Facebookgruppe oben rechts bei. Wenn ihr wirklich keine Beiträge verpassen wollt, dann solltet ihr in den E-mail-Verteiler (bei Facebook kommt ja nicht mehr alles an).  Ein RSS-Feed für die progressiven Internetnutzer ist natürlich auch vorhanden. Ansonsten könnt ihr mich gerne anschreiben oder einen konstruktiven (!) Kommentar hinterlassen. Ansonsten wäre weiterempfehlen ganz nett.Norman Schultz, Mai 2015, Pittsburgh
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5 Antworten auf Lernen und die Systematizität im Sozialen – Im Gespräch mit Emil Darrenhofer über Lerntaktiken, Lernstrategien, Schule und den ganzen Rest

  1. Pingback: Lernen als soziale Eigenschaft des Menschen – Im Gespräch mit Emil Darrenhofer über Lerntaktiken, Lernstrategien, Schule und den ganzen Rest (zweiter Teil) | Bewusstes Lernen

  2. Großes WOW zum Gespräch. Da hast du einen großen Denker vor dir gehabt. Einige Anmerkungen dazu kurz: Ich stimme sehr zu dass MegaMemory (Gedächtnispaläste und co) sich nur gut für „Auswendiglernen“ eignen. Und auch wenn ich SEHR beeindruckt bin, wenn manche bspw. stundenlang zuhören und dir danach wortwörtlich zitieren können oder 200 Leute kurz treffen um sie dann samt vollständigem namen und Beruf wieder zu benennen, sehr ich doch die Grenzen dieser alt-griechischen Werkzeuge.

    Doch es ist ua Prof. Martin Lehner dessen Erkenntnisse zum „Strukturwissen“ (das als Basis zur Entwicklung späterer pot. Expertise dient) ich in meiner Thesis wie folgt zusammengefasst habe.
    „Es werden hierbei erste wichtige Wissensfäden für das neu zu knüpfende Netzwerk geschaffen, in das in Folge Detailwissen eingewebt werden können. Durch den bewussten Aufbau eines solchen Strukturwissens schaffen sich die Lernenden eine Grundlage zum einfacheren Einordnen von darauf folgenden Phänomenen und Sachverhalten.“ Zitat Giermaier :)

    Und ein Punkt noch: TEDTalks seien wie Sesamstraße (oder Sachgeschichten der Sendung mit der Maus) für Erwachsene. Power to them! Die GROSSE KUNST ist es ja, das ESSENZIELLE zu entdecken, didaktische Reduktion ist das Stichwort, hab ich mich lang und tief damit befasst und das WESENTLICHE zu entdecken und zu vermitteln auf einer ebene dass es eben auch NICHTEXPERTEN verstehen ist in meiner Welt die GRÖSSTE KUNST.

    • Hi Andreas,

      danke für den sehr konstruktiven Kommentar. Hast du eine Quelle zu Martin Lehner? Das würde mich interessieren. Das mit den Strukturfäden hört sich sehr interessant an, aber glaubst du, dass sich das dann auch bestätigt? Ist es zum Beispiel sinnvoll, wenn das Ziel des Lernens ja eigentlich nicht Memorieren ist, sondern praktische Anwendung. Wären zum Anlegen von Wissensfäden nicht andere Fäden ratsamer, nämlich mit anderen darüber zu sprechen. Mal ein Beispiel, wobei ich mir nicht sicher bin. Wäre es zum Beispiel für das Klavier sinnvoll, theoretische Vorgaben zu lernen und sie vielleicht in einem Wissenspalast memorieren, würde mir das mehr helfen, als es durchzuprobieren und nicht zu memorieren?

      Bei den TED-Talks: Ich stimme zwar zu, dass die Reduktion von Komplexität zeitweise sinnvoll ist, hin und wieder ist es aber auch wiederum wichtig schwierigere Wege erst einmal zu beschreiten. Ich würde zum Beispiel nicht Einsteins Theorie kritisieren, weil sie kompliziert ist. Genauso nicht Kant dafür, dass er sich kompliziert ausdrückt. Nach der Wahrheit ist die Einfach zu bevorzugen, aber das Einfache ist nicht notwendig das Wahre. Die Hauptkritik an TED-Talks ist wohl der: Über die Information, was da draußen vor sich geht, lässt sich nciht viel gewinnen. Wirkliches Wissen entsteht in der praktischen Auseinandersetzung mit Themen und nicht im Konsum. TED-Talks erlauben keinen Feedback. Man ist als Zuschauer zur Passivität verdammt und darüber hinaus hat es den psychologischen Effekt, dass man sich danach schlauer fühlt, obwohl man es nicht ist.

      Mir scheint, du hast deine M.A. gut durchgebracht?

  3. Pingback: Zum Lernen in der Freizeit, warum Schulen strenger sein sollten und wie dramatisch Eltern unsere Chancen beeinflussen – 3. Teil meiner Gespräche mit Emil Darrenhofer | Bewusstes Lernen

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