Lernen als soziale Eigenschaft des Menschen – Im Gespräch mit Emil Darrenhofer über Lerntaktiken, Lernstrategien, Schule und den ganzen Rest (zweiter Teil)

Emil Darrenhofer: Nach unserem letzten Gespräch, wo wir die Bedeutung des Sozialen im Lernen hervorgehoben haben, wäre es sinnvoll, soziales Lernen am eigenen Beispiel zu beschreiben.

Norman Schultz: Ich habe hier in Pittsburgh großes Glück.Im Moment habe verschiedene Lernzirkel gefunden. Zum Einen zieht nun Roli Carspecken in mein Haus in Pittsburgh. Dessen Vater ist Professor für Philosophie in Indiana. Dieses tägliche Training, das er über die vielen Jahre erfahren hat, macht sich klar in seiner Arbeitsweise bemerkbar. Die Systematizität mit der wir das Werk von Hegel in kleinen logischen Schritten entschlüsseln, bis in kleinste, logische Details zerlegen, habe ich so noch nicht zuvor betrieben. Seine Ausdauer diesbezüglich ist bemerkenswert.

Zweitens, habe ich einen Lernzirkel zusammen mit John Harvey, der Griechisch, Latein, Französisch und Deutsch nahezu perfekt ins Englische übersetzen kann. Wir gehen hier in die linguistischen Details jeder Sprache und rekonstruieren dann die Argumente. Das macht mir sehr viel Spaß, da ich ja Linguistik studiert habe. Darüberhinaus sind seine linguistischen Fähigkeiten ähnlich gut ausgeprägt wie seine mathematischen Kenntnisse innerhalb der analytischen Traditionen. Er unterrichtet an einem College hier Logik. Die Gespräche mit ihm motivieren mich auch, auf die Grundlagen der Mathematik zurückzukommen und auch grundlegende Beweise in meine Dissertation einzuarbeiten.

Drittens, habe ich eine Lerngruppe mit Kiril (Dirigent) und Konstantina Stankow (Pianistin) zusammen, wobei wir jeden Abend verschiedene Tabellen ausfüllen, die verschiedene Punkte zu unseren Lernfortschritten in verschiedenen Bereichen angehen und wir wählen uns selbst Challenges. Wenn wir die selbstgesteckten Lernziele nicht erreichen, so zahlen wir gemeinsam in eine Kasse ein und gehen dann davon essen. Einmal wöchentlich haben wir dann einen gemeinsamen Telefontermin, indem wir Texte zu dieser Persönlichkeitsentwicklung durchgehen und die Tabellen überarbeiten. Wir quantifizieren und qualifizieren in den Tabellen. Ich fasse diese Ergebnisse der Selbstquantifizierung hier regelmäßig an der CMU University beim Quantify Yourself-Meet-up zusammen, wo ich schon viele Menschen getroffen habe, die mir bei der Aufarbeitung der statistischen Informationen behilflich sind.

Viertens, ist es über diese allgemeine Entwicklung hinaus sehr hilfreich mit Menschen in Kontakt zu sein, die konstant lernen müssen. Da müssen bei Kiril und Konstantina immer wieder neue Stücke eingeübt werden und das motiviert mich auch am Klavier weiter zu gehen. Ich habe hier jetzt auf einem großen Banquet für einen wohltätigen Zweck gespielt, wo die verschiedenen Millionäre Pittsburghs sich zusammengefunden haben. Ich habe dies jetzt bereits zum dritten mal gemacht. Mein Repertoire ist jetzt ca. 2 Stunden lang und hat hohe technische Qualität. Ich spiele Weihnachten zum Gottesdienst in der Kirche im Stadtzentrum. Die Kontakte, die sich dadurch ergeben sind unschätzbar und treiben mich weiter an. John Dolan lobte mich sehr, der hier Professor für Robotics an der Carnegie Mellon University ist, aber in der Kirche in Pittsburgh zusätzlich die musikalische Leitung hat. Der Kontakt zu ihm, erweitert immer wieder meine Perspektiven in Bezug auf künstliche Intelligenz. Zudem spiele ich dadurch in einer Band mit nahezu professionellen Musikern und mit zwei anderen Studenten, erarbeiten wir gerade das D-Moll Violintrio von Bach, was wir dann auch zur Aufführung bringen. Solche Kontakte treiben mich dazu an, auch hier Entwicklungen immer wieder zu hinterfragen und es geht wesentlich besser überhaupt zu lernen.

Es gibt noch weitere, dieser Projekte, zum Beispiel mein im Semester 2-mal wöchentliches Training mit Tom Martinek, der nationaler Meister im Schach ist und was mich letztlich auf Expertenniveau im Schach gebracht hat. Ich trainiere weiter neue Eröffnungen mit Tom Dean, der Mathematik studiert und mit mir neben den Schachspielen auch Grundlagen der mathematischen Beweisführung immer wieder durchgeht.

Neuerdings beginne ich nun ein Treffen mit Professor Mystick (Juraprofessor hier an der Duquesne University) und weiteren Kollegen, wo wir Theorien zum Strafen durchgehen und versuchen wollen, Artikel zur verqueren Theorie des Bestrafens in Amerika unterzubringen.

Neben allen anderen Kontakten ist aber wohl am wichtigsten, die täglich Arbeit mit Studenten, die meine Fähigkeiten innerhalb der Philosophie auf ein sehr stabiles Fundament gestellt hat. Allein, die Tatsache, dass ich dreimal die Woche eine Vorlesung organisiere, hat nicht nur meinen Überblick über die Philosophie geschärft, sondern auch meine Fähigkeiten in Englisch so extrem gesteigert, dass viele mich bereits fragen, ob ich in den USA aufgewachsen wäre.

Emil Darenhofer: Dies zeigt, wie Lernen sozial funktioniert und wie sich dies auch auf das Entstehen von Wissen auswirkt. Es zeigt, wie dieses Soziale als Motor aller Entwicklung wirkt und wie wir deswegen Lernen diesbezüglich verstehen müssen. Wir sollten dies weiter besprechen.

Norman Schultz: Bisher hatten wir ja über die Rolle des Sozialen noch sehr vage gesprochen. Kommen wir daher erstmal zu einem sozialen Problem, um den Sinn dafür zu schärfen. Im Moment bildet sich ab, dass Mädchen in den Schulen den Jungen den Rang ablaufen. Inwiefern passt das zur Sozialthese?

Emil Darrenhofer: Das ist richtig ja. Mädchen sind besser als Jungen in der Schule, sogar in den mathematischen Bereichen. Allerdings ist hier eine Anpassungsreaktion zu vermuten. Mädchen sind immer noch als Frauen in einem repressiven System und fügen sich eher den institutionellen Erwartungen als Jungen. Das institutionalisierte Lernen der Schule passt zu Mädchen und der Unterdrückung der Frau. Die Gefahr ist nun aber groß, dass das erworbene Wissen im Alltagsmodus wieder austrocknet, weil Mädchen nicht dazu ermutigt werden, dieses auch weiter zu verfolgen. Was nützt es Samen zu streuen, wenn die Bildung keine weitere Umsetzung erfährt?

Norman Schultz: Meinen Sie, dass Mädchen über die Schule hinaus nicht gefördert werden?

Emil: Darrenhofer: Ich weiß nicht, woran es liegt, aber während die Psyche bei Mädchen im Sozialen auf eher „weibliche“ Themen umgeschmolzen wird, so sind Jungs stärker auf die Entwicklung ihrer Fähigkeiten bedacht.

(Anmerkung Norman Schultz: Ich habe in einem Artikel dargelegt, wie sich das weibliche Geschlecht auf Youtube eher den modischen Themen widmet und damit eine Geschlechertrennung im Internet stark manifestiert).

Jungen passen sich nicht der zunehmend mehr verweiblichten Schule an. Dieser Rückzug der Jungen von den Anpassungsforderungen der Schule findet eine sozial akzeptierten Kompensation in den technischen Bereichen. Ingenieursrelevante Interessen, Computer oder eher mathematische Hobbies sind spezifischer für Jungen. In diesem Sinne sehen wir, dass Mädchen zwar in der Schule erfolgreicher sind, aber gleichzeitig, dass sich Lernen nicht in der Institution ereignet, sondern im sozialen Bereich erst die entscheidende Vertiefung erfährt. Wenn wir Mädchen nicht ermutigen auch hier Fortschritte zu erzielen, dann wird sich der Erfolg der Schule nicht fortsetzen lassen. In diesem Sinne gehen dann Jungs auch nicht in die hoffnungslos überlaufenen, sozialen und geisteswissenschaftlichen Bereiche.

Norman Schultz: Nun gut, das Thema ist womöglich sehr kontrovers. Es zeigt sich aber, dass die Schule nicht hinreichend ist, um Bildung zu ermöglichen.

Wir hatten beim letzten mal allerdings, ein Video gewählt, das mit Lerntipps hantierte (Link zum Video). Problem war dabei, dass es verschiedene Dinge einfach zusammenrührte und das Lernen nicht systematisch anging. In diesem Sinne sagen wir auch in der Soziologie: Gründe sind immer billig. Ein Beispiel: In einem Versuch zeigte man Probanden Bilder von Personen und bat die Probanden, zu entscheiden, welche Person schöner sei. Danach vertauschten die Versuchsleiter die Bilder ohne die Kenntnis der Probanden und zeigten ihnen das Bilder der nicht-schönen Person. Die Probanden sollten dann erklären, warum sie sich für diese Person entschieden haben und natürlich gab es genug Gründe, die ihnen in diesem Moment in den Sinn kamen.

Emil Darrenhofer: Ein Grund warum diese Clickbait-Artikel (Artikel die viele Klicks erzeugen sollen) wie zum Beispiel 7 Gründe, warum du deinen eigenen Blog gründen solltest, so ansprechend, aber andererseits auch einfach nur nervig. Ich könnte 100 Gründe auflisten, warum wir diese Überschriften nicht mehr wählen sollten.

Norman Schultz: Zurück zum Thema: Wir wollen wissen, warum nun dieses Vorschlagsvideo so gut wie sinnlos ist. Die Frage des Systems hatten wir schon abgearbeitet. Können wir nun vor dem Hintergrund der ausgeführten Sozialhypothese beantworten, warum derlei Lerntipps wie oben den Zugang zum Arbeiten verbauen?

Emil Darrenhofer: Der Markt ist überfüllt mit Techniken, die Sie, wenn Sie diese denn beherrschen wollen, alle samt erst einmal im Alltag integrieren müssen. Das geschieht aber nur, wenn Sie viel Energie investieren. Statt also dann sinnvoll zu arbeiten, nehmen ihnen die meisten vorgeschlagenen Techniken wertvolle Zeit. Nehmen wir an, sie schauen dieses Video, was aber dann? Haben sie nicht irgendwie schon alles vorher gewusst? Ich vermute es sind sogar wesentliche Mängel in diesen Videos vorhanden, ich glaube zum Beispiel dass die Karteikartentechnik (der erste Tipp, sich Lernstoff auf Karteikarten zu schreiben) bedingt sinnvoll ist, vielleicht höchstens zur Strukturierung von Lerninhalten, aber Studien zeigen klar, dass wir eher durch intelligente Fragen, den Stoff lernen. Mit Karteikarten lernt man zum Beispiel auch keine Sprache. Zweitens, Mindmapping ist eine stark limitierte Technik, die viele Kausalverbindung nicht zulässt. Mindmapping ist ein sehr amerikanisches Modell, das deutschen Ansprüchen einer systematischen Verknüpfung von Lerninhalten nicht genügen kann. Ich schlage daher eher das Text-Bild-Verfahren der Michelmanns vor, das sie zur Ausbildung von Lesekompetenz anbieten.

Aber auch hier kommt es darauf an, diese Dinge sozial zu erwerben. Übrigens einer der Gründe, warum sie ihr echtes Schnelllesen (zu unterscheiden von dem ganzen anderen Quatsch, der am Markt ist) nur in sehr aufwendigen Einzelsitzungen anbieten können.

Den dritten Vorschlag, mit alten Prüfungen zu lernen halte ich für sehr sinnvoll, weil es die Lerninhalte in kausalen Zusammenhängen darstellt. Hier aber fehlt es dann an der Kontrolle, ob Lerninhalte nicht nur abgearbeitet werden und an der richtigen Implementierung im Alltag. Der nächste Tipp war daher Zeitmanagement, wobei natürlich vielen klar ist, dass sie ihre Zeit managen sollten und sich das vornehmen, so wie sie sich am Neujahrstag eben auch Sport vornehmen. Wie aber halten wir Sport durch?

Fünftens, der Wert der Lerngruppen deutet dabei in die richtige Richtung, aber auch hier ist unklar, wofür die Lerngruppe da sein soll und wie wir diese produktiv gestalten. Alles in allem sind dies Lebensratschläge, die keine relevante Veränderung beim Einzelnen bewirken werden und in diesem Sinne, können sich die Zuschauer das Ganze sparen.

Norman Schultz: Ich möchte das gerne auch am Beispiel des Schach verdeutlichen, da ich ja hier in Pittsburgh, wie oben erwähnt, als Experte mit meiner gegenwärtigen Schachwertzahl gelte. Ich habe gerade das Buch von Kotov: „Play Like a Grandmaster“ gelesen.

Dieses vermittelt viele Stellungsbewertungen aber wie zum Beispiel auch der Großmeister Victor Smirnov verdeutlicht: Stellungsbewertungen können analytisch zusammengetragen werden, aber sie geben nicht die Lösung. Die wichtige Intuition für die Lösung wird dabei nicht magisch mitgeliefert. Ich kann zum Beispiel eine Stellung analysieren und erkennen, dass die Türme sich auf der offenen Linie befinden. Die Stellung wird nach einer Einschätzung für Weiß als klar besser evaluiert und dennoch kann ich den Vorteil, der sich aus der Analyse ergibt einfach nicht umsetzen (ich beziehe mich hier auf die Partie zwischen Botvinik und Sorokin um die USSR Meisterschaft aus dem Jahre 1931). Statt also hier analytischen Merkmalen zu folgen, muss ich gegen die oberflächlichen Schachanalysen verstoßen und meine Bauernstruktur zerstören, nur um die relevanten Felder zu erobern. Während der gesamten Partie hält sich Botvinik an kleinen strategischen Vorteilen fest, was sich erst im Endspiel in einen immer größeren und handfesten Vorteil manifestiert. In diesem Sinne ist keine Schachregel zu nutzen, sondern die konkrete Einbettung in bestimmte Umstände. Genauso verhält es sich beim Lernen. Lernen ist kein Prozess, der sich auf einen Algorithmus reduzieren lässt, sondern muss in einem sozialen Prozess gut bestimmt werden. Wer glaubt, dass er Lernen wie Chinesen durch das Einhämmern vom Einmal-Eins beendet oder dadurch, dass er vor allem in der Schule ein gutes Zeugnis mit nach Hause bringt, weil er Algorithmen beherrscht, der ist auf dem Holzweg.

Lassen Sie es mich aus einer anderen Perspektive sagen: Lernen ist eine Gattungseigenschaft des Menschen. Subtrahieren wir das Lernen vom Wesen des Menschen, so haben wir es nicht mehr mit einem menschlichen Wesen zu tun. Lernen gehört zum Menschen und da der Mensch auch ein soziales Wesen ist,  muss Lernen sozial verstanden werden (Der Schluss funktioniert, da Definitionen nicht kreativ sein dürfen. Das heißt, das Soziale ist im gewissen Sinne Lernen und schließt sich an Wittgensteins Überlegung an, dass niemand allein, vernünftig sein kann).

Emil Darrendorf: Ich vermute, und vielleicht handelt es sich hierbei nur um eine oberflächliche Vermutung, dass dieses soziale Lernen in Ländern wie China nicht gut funktioniert. In dem Moment, wo ich den Leistungsdruck auf Schüler so umlege, dass der soziale Zusammenhalt leidet und ich Schule nicht auch als etwas begreife, dass Klassenverbände schafft, so verleugne ich einen wesentlichen Teil des Lernens. Ich möchte sagen, dass eine produktive Freizeitgestaltung im Rahmen der Schule unerlässlich ist. Schulen sollen auch Orte der Freizeit sein, wobei Schule hier die Charakteristik der monströsen Institutionalisierung verliert. Schule ist kein anonymes, kafkaeskes Schloss, sondern muss ein lebendiger Organismus sein. Deswegen sollten wir den Wert von zum Beispiel Klassenfahrten oder Nachmittagsaktivitäten nicht unterschätzen.

Norman Schultz: Da stimme ich zu. Es ist genau das, was ich meinen Studenten am Ende des Semesters sagte. Es kommt nicht darauf an, ob sie hier in meinem Kurs ein A bekommen, sondern auf die Aktivitäten, die sie innerhalb der Universität ausfüllen. Wir werden sicher noch später auf die Grenzen der Institution zurückkommen. Aber vielleicht belassen wir es dabei für heute.

Dies war der zweite Teil unseres Gesprächs und es folgen Weitere. Wenn ihr diese nicht verpassen wollt und mir weiter folgen wollt, dann added mich doch bitte bei Google+. oder tretet der Facebookgruppe oben rechts bei. Wenn ihr wirklich keine Beiträge verpassen wollt, dann solltet ihr in den E-mail-Verteiler (bei Facebook kommt ja nicht mehr alles an).  Ein RSS-Feed für die progressiven Internetnutzer ist natürlich auch vorhanden. Ansonsten könnt ihr mich gerne anschreiben oder einen konstruktiven (!) Kommentar hinterlassen. Ansonsten wäre weiterempfehlen ganz nett.

Norman Schultz, Juni 2015, Pittsburgh

Artikelbildattribution: © Nevit Dilmen [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0) or GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html)], via Wikimedia Commons

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